Die Schlacht ohne Namen

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OT-Anmerkung: Diese Geschichte über die Montrowische Plage wurde ca. 17 oder 18 Jahre nach den geschilderten Ereignissen anonym verfasst. Nur ein Teil der Figuren sind eindeutig zuzuordnen. Da es nicht üblich ist, besonders offen über die Erinnerungen an diese Katastrophe zu sprechen, gilt es als unmöglich, die Identitäten des jungen Mannes oder der Hexe klar zu bestimmen. Für beide kommen mehrere historische Persönlichkeiten infrage.

Die Schlacht ohne Namen

DIE GRENZFESTUNG

Einst lebte ein junger Mann in einer Welt, in der es die Lebenden Toten nicht gab. Gewiss, es gab sie in alten Legenden oder in absonderlichen Berichten vom anderen Ende der Welt. Doch jenseits dieser Schauergeschichten rechnete niemand damit, solchen Gestalten jemals zu begegnen. Es war noch nicht einmal damit zu rechnen, dass jemand, den man kannte, solchen Gestalten einmal begegnen würde. Selbst nicht jemand, von dem man nur gehört hatte. Im Grunde gab es sie nicht. Daran änderten auch die Wenigen nichts, die es besser wussten. Einige von ihnen verschwiegen ihr Wissen aus Bosheit, andere waren des Warnens müde geworden und wieder andere, wohl die allermeisten von ihnen, hatten sich damit zufrieden gegeben, diese Schrecken in uralten Legenden zu suchen oder am anderen Ende der Welt. Daher war es so, als gäbe es sie nicht.

Es waren keine guten Zeiten, aber sie waren besser als das Gewesene, so sagten alle. Der Herrscher des Landes war ermordet worden und sein Erbe verschonte die Mörder, denn er hatte sich mit den Rebellen aus den dunklen Wäldern und den hohen Mooren auf einen faulen Frieden geeinigt. Doch in den Tagen der Großeltern hätte man überhaupt keinen Frieden geschlossen und nach der Schlacht sei immer nur kurz vor der Schlacht gewesen. Also sei es heute besser als gestern, so sagten die Männer. Mit den Rebellen aus den dunklen Wäldern und den hohen Mooren hatte der Erbe des ermordeten Herrschers sich zwar geeinigt, aber die Rebellen aus den alten Bergen hatten ihr eigenes Fürstentum ausgerufen und damit sich selbst und das Land des ermordeten Herrschers in die Knechtschaft von Königin Armut gezwungen. Doch in den Tagen der Großeltern wäre die Armut noch viel größer gewesen und selbst die Habenichtse hätten sich noch vor der Beutelust derer hüten müssen, die sie als Sklaven verschleppen wollten. Also sei es heute besser als gestern, so sagten die Weiber. Während man mit den Rebellen aus den dunklen Wäldern, den hohen Mooren und den alten Bergen beschäftigt gewesen war, hatte das mächtige Nachbarreich im Süden seine Grenzen nach Norden verschoben, ohne einen Preis dafür zu zahlen. So war nun das Erwachen seiner Eroberungslust zu befürchten. Es waren keine guten Zeiten. Aber noch wusste niemand, dass sie besser waren als das Kommende.

Erst recht wusste der junge Mann nichts davon, dem das Leben in jugendlicher Pracht erstrahlte. Er war weder zur Sorglosigkeit erzogen worden, noch war er von der Erfahrung früher Trauer verschont geblieben. An der Seite des Herrschers hatte er sich auf dem Schlachtfeld einen Namen gemacht, er besaß reiche Güter, treue Gefolgsleute und Kindersegen. So lebte er glückreich, wenn auch nicht glücklich, und seine Jugend erstrahlte. Als seine Weisen ihm von schlechten Omen berichteten, verzagte er nicht, denn er wusste ja, dass die Zeiten keine Guten waren. So traf er Vorsorge, wo er es vermochte und ließ ohne Furcht auf sich zukommen, wovon er nichts wissen konnte. Anders als viele es taten, drängte er seinen Herrn, den Erben des Herrschers, nicht zum Waffengang mit den Feinden und Verrätern, die sie schon kannten. Stattdessen riet er, wie es nur wenige taten, zur Wachsamkeit vor den Feinden und Verrätern, die sie noch nicht kannten. Und sein Herr hörte auf die Wenigen, nicht auf die Vielen. Unter diesen wenigen gab es kaum welche, in deren Antlitz noch die Jugend blühte.

Wachsam befragte sein Herr Omen und Kundschafter, die aus allen Himmelsrichtungen kamen. Kurz vor dem ersten Schnee, nachdem die Ernte eingefahren war, erreichten ihn aus dem umstrittenen Hügelland bei den alten Bergen befremdliche Geschichten, die wie Omen klangen und doch keine waren: Eine Urgroßmutter hätte ein Kindlein totgeschlagen und sei vor der Sippe geflüchtet, berichteten Priester. Es gingen Straßenräuber um, gegen die kein Pfeil wirksam sei, berichteten Hirten. Bauernvolk solle im Wahn das eigene Dorf abgebrannt haben, berichtete eine Krämerin.

Auch der junge Mann hörte solche Geschichten aus dem Hügelland, die keiner deuten konnte. Als ihm aber berichtet wurde, wie die Hunde der dortigen Grenzfestung ohne ersichtlichen Grund des Nachtens angeschlagen und bis zum Morgen keine Ruhe mehr gegeben hätten, da ließ er die Pferde satteln, ohne seines Herrn Befehl abzuwarten.

Als er sich mit seinem Gefolge auf den Weg machte, legte sich die sanfte Decke des Winters über das Tal und der Abend färbte seinen Weg in zartes Rot. Zum letzten Mal sollte der junge Mann den ersten Schnee mit den Augen der Jugend sehen. Hätte er das geahnt, wäre er gewiss für einen Moment vom Pferd gestiegen, um inne zu halten. Doch stattdessen eilte er voran wie junge Männer es nun mal tun. Um Mitternacht kam ihnen ein Staffelreiter entgegen, der ihnen zurief, dass die Grenzfestung angegriffen würde. Da wunderte der junge Mann sich sehr, schließlich hatte es keine Nachrichten über ein heranrückendes Heer aus dem Süden gegeben. Doch der Staffelreiter wusste ebenso wenig, wer die Angreifer waren und setzte seinen Weg fort. Auch der junge Mann wollte jetzt nicht mehr rasten, so dass er mit den seinen bis zum Morgen im Sattel blieb. Da kam ihnen wieder ein Reiter entgegen, der aber keine Eile zu haben schien. Man fragte ihn, ob er Neues zu berichten habe und er gab zur Antwort, dass die Grenzfestung den Angriff abgewehrt habe. Auf die Frage, wer die Angreifer gewesen seien, schwieg er lang und sagte dann, er wisse es nicht. Wie denn ihr Feldzeichen ausgesehen hatte, drang man ungeduldig auf ihn ein. Wieder schwieg der Gefragte lang und beschrieb dann ein Banner aus Menschenhaut, voller entstellter Gesichter, die noch immer qualvoll jammerten. Und aus seinen Augen blickte nur der blaue Mohn. Bestienheere sammelten sich stets viel weiter südlich, wusste der junge Mann. Also begehrte er harsch, alles genau beschrieben zu bekommen, was der Reiter gesehen hatte. „Grauenhaftes“, säuselte dieser zur Antwort und ritt von dannen. Und auf dem ersten Eis des Winters spiegelte sich die aufgehende Sonne im Fluss.

Die übrige Strecke legten sie abseits der Gewässer durch leeres Land zurück, sodass ihnen niemand mehr begegnete, bis sie die Grenzfestung erreichten. Sie fanden nichts Ungewöhnliches daran, dass es zwar Kampfspuren gab, aber keine Leichen, denn schweigend räumten Männer, Weiber und Kinder verkohltes Holz beiseite, versorgten Verwundete und trieben Vieh zusammen. Rasch eilte der junge Mann in die große Halle zur Burgherrin, die aber mit niemandem mehr sprach. Aufgebahrt lag sie dort mit ihren vier Söhnen; und mit auf den Schwertern gefalteten Händen auch ihre halbe Reiterschar. Nachdenklich betrachtete er sie in ihrem offenen Sarg, kunstvoll geschnitzt und wie ein Boot geformt. Er bat um Schutz für ihre Reise in die Unterwelt und begriff, dass ihre Linie hier endete. Die Väter der Seinen hatten einst Schwerter mit ihr gekreuzt und wieder Frieden geschlossen. Obwohl sie von fremdem Stamme gewesen, hatte sie sich nie mit den Aufständischen eingelassen und noch im vorletzten Jahr viel Blut für ihre Treue bezahlt. Nun hatte sie keines mehr zu geben.

In der großen Halle fanden ihn seine Männer und berichteten, was das Burgvolk zu erzählen hatte: In der Dunkelheit sei unerkannt eine Vielzahl von drei Seiten herangerückt und hätte wohl die Brücke über den Fluss erobert, wenn die Herrin sie nicht tapfer verteidigt hätte. Zuvor aber müsse in den Hütten vor den Mauern ein stilles Töten begonnen haben, denn erst als dort ein Feuer ausgebrochen sei, habe man Feinde bemerkt, die kein Wachposten habe kommen sehen. Die Hunde seien weggesperrt und die Gänse fortgetrieben worden, nachdem sie nächtelang keine Ruhe gegeben hatten. Die Überraschung sei aber nicht das erstaunlichste, sondern die Angreifer selbst. Schmutzig, schlecht bewaffnet und scheinbar ungeordnet seien sie erst erschienen, doch wichen sie weder Pfeil noch Pferd. Dann sei das schreckliche Banner erschienen, über drei Berittenen in fremden Panzern mit unbekannten Wappen. Die mittlere von ihnen, eine bleiche Frau, hätte die Hand zum Himmel gestreckt und zur Faust geballt, woraufhin ihr Heer aus Lumpengestalten sich wie ein Mann zurückgezogen hätte. Sie hätten die Erschlagenen mitgenommen, eigene wie Gegner, und dies auch bei der Burgherrin versucht. Selbst das Gräberfeld sei zerwühlt. Als der junge Mann dies hörte, bestieg er wieder sein Pferd. Die Grenzfestung hatte in den vorangegangenen Kämpfen zweimal den Besitzer gewechselt. Daher gab es dort abseitig zwei Massengräber – eines der Getreuen und eines der Verräter. Als der junge Mann sie aufsuchte, fand er nur noch leeren Boden.

In den Tagen der Totenwache füllte sich die Grenzfestung mit Menschen und Schnee. Der junge Mann aber beschloss, den schwindenden Spuren der Angreifer so lange zu folgen, bis sie gänzlich bedeckt sein würden. Sie führten ihn bis zum linken Ufer des Flusses und dann stromaufwärts. Die meisten Höfe dort waren schon seit zwei Jahren verwaist. Nur hier und da gewährte der flüchtige Blick Hinweise auf kürzlich eingebrachte Ernte oder Herdstellen, die bis vor wenigen Tagen noch benutzt worden waren. Aber drei Tage lang sah er nicht ein einziges Boot.

Im Hause der gefallenen Burgherrin ereignete sich indes höchst Erstaunliches: Zuerst kamen die Reiter und bewaffneten Bauern vom Stamm der Burgherrin sowie erste Vasallen des Herrn mit ihrem Kriegsgefolge. Je öfter es nun erzählt werden musste und je mehr sich vom Flaum des Himmels auf die Dächer herabsenkte, desto schlechter erinnerte sich das Burgvolk daran, was in der Nacht des Angriffs eigentlich geschehen war. Viele meinten, unter den Feinden rastlose Ahnen gesehen zu haben. Einige entsannen sich der Geschichten, die im Stamm der Burgherrin erzählt werden. Sie sagten, dass die Toten zornig seien, weil die Lebenden zusehends nach neuen Sitten lebten. Andere gaben zu bedenken, dass die zornigen Geister der Hügelgräber aus den Sagen der Inselvölker sich keinen Heerführern anschlössen und sich nicht allzu weit von ihren Ruhestätten entfernten. Dennoch wurde die Forderung laut, man müsse die Gefallenen enthaupten und anketten, ehe man sie bestatten dürfe, allen voran die Burgherrin. Ihre Dienerinnen aber drohten denen, die so gesprochen hatten, mit Waffen. Wenn das Burgvolk nicht durch strenge Rede der Herbeigekommenen zur Besinnung gebracht worden wäre, hätte es vielleicht über die Totenwache blutigen Streit gegeben. Aber schon mussten die Wege freigeschaufelt werden, um Platz für Mensch und Tier zu schaffen.

Obwohl der junge Mann sich natürlich fragte, was das Geheimnis der unbekannten Feinde sein mochte, sprach er mit seinen Reitern nicht darüber. Wenn sie zu laut über die uralten Geschichten von der Geburt des Kleinen Volkes nachdachten, sagte er nur, sie könnten nicht alles wissen. Doch was sie wussten, war, dass die Angreifer weiter am Oberlauf eine Brücke finden würden und man in Erfahrung bringen sollte, ob sie sie überqueren wollten. Nur war die Zeit gegen sie. Am dritten Tag war das Eis so dick, dass niemand eine Brücke brauchen würde und das Schneetreiben so dicht, dass sie ebenso gut eine Streitmacht von Geistern hätten suchen können. Also machten sie kehrt. Den Schnee füllten sie in den Teekessel bei ihrer ersten Rast. Vom andern Ufer näherte sich da plötzlich eine teils berittene Schar. Sofort waren die Rastenden bei den Waffen, bis sie bemerkten, dass sie jene kannten, die da kamen. Geführt wurden sie von einem im ganzen Land bekannten Krieger, von dem es hieß, er sei der frommste weit und breit.

Zugleich füllte man auf der Grenzfestung den Schnee in die Suppentöpfe, als der Herr dort ankam. Ihm oblag es nun in der Not, die Totenrede der Burgherrin zu halten und ihre Dienerinnen zu seinen zu machen. Den Streit des Burgvolkes schlichtete er, indem er die Toten weder enthaupten noch anketten, aber unter den steinernen Bodenplatten der Halle beisetzen ließ, wo sie noch heute ruhen.

Einer Bestattung musste auch der junge Mann beiwohnen, denn die kleine, aber einst sehr ansehnliche Streitmacht führte einen einst wortgewaltigen, gemordeten Priester mit sich. Sein Ruhm war so groß, dass die Schande derer, die ihn nicht hatten beschützen können, kaum erträglich war. Mit Ausnahme ihres Anführers benahmen sie sich alle, als sei der Verlust des Priesters das Schlimmste, was dieser Tage geschehen war. Scham ergriff derweil das Burgvolk, als die Gefallenen unter die Halle gebettet worden waren. Gegenüber dem Herrn kam sich närrisch vor, wer zuvor rastlose Ahnen gesehen zu haben glaubte. Wenn wirklich Schwarze Kunst im Spiel gewesen sei, sagte einer, dann vielleicht in der Weise, dass die zerlumpten Rebellen in ihren Reihen eine Hexe hatten, die sich dämonische Nachzehrer zu Dienern gemacht hatte, die sie mit Leichen füttern müsse. Aber vielleicht wären die Gräber auch nur zum Hohn der Verteidiger geplündert worden.

Zuvor, stromaufwärts, noch ehe der ruhmreiche Priester den Flammen übergeben wurde, ja noch bevor der ganze Tross den Fluss überquert hatte oder man ihm hätte Tee anbieten können, sprach der fromme Krieger zu dem jungen Mann: „Wir verloren die Schlacht gegen ein Heer von Lebenden Toten, jenen aus früherer Zeit. Wahr sind die Legenden und Zweifel gibt es nicht.“


DIE HEXE

Der Winter wirkte in der Weite des Landes zunächst wie jeder andere. Die Bauern blieben in den Häusern, wenn sie konnten und die Hirten suchten ihre Winterlager auf, wie seit eh und je. Als Pflanzen und wilde Tiere ihre Rast begonnen hatten, eilten nur noch die Boten von Ort zu Ort. Auf die des Herrn folgten die der Vasallen und Rebellen und ihnen folgten die Nonnen und Möche, die frommen und die falschen. Sie alle berichteten Schreckliches und Rätselhaftes, ohne selbst Klarheit zu haben. Die Schicksalsstrafe für die Ermordung des Herrschers sei über das Volk gekommen, sagten einige. Dass der gemordete Herrscher sich geweigert hätte, ins Totenreich einzugehen und nun die vermessenen Seelen zum Kampf gegen die Lebenden rufe, entgegneten andere. Doch zur Feier der Wintersonnenwende wollte niemand schlechte Kunde hören. Also feierte man weit und breit wie eh und je.

Nicht so im Hügelland. Dort lebten vier Stämme, bei derer zweien es Sitte war, die Toten unverbrannt in der Erde zu bestatten. Dreihundertdreiundvierzig Reiter durchquerten es im Auftrag des Herrn, unter ihnen auch der junge Mann. An jedem Hof befahlen sie dem Volk die Flucht ins weite Tal. Neben Vieh und Waffen durfte nur das Nötigste mitgenommen werden bis zur Rückkehr im Frühling. Wo man den Reitern glaubte und gehorchte, öffneten diese, als sie alleine waren, die Gräber und verbrannten die Toten, wenn die Zeit dafür reichte. Wenn nicht, schnitten sie die Köpfe, Hände und Füße ab und begruben sie achtundneunzig Schritte von den Leibern entfernt. Zumeist aber glaubte und gehorchte man ihnen nicht und beugte sich nur dem Zwang.

Zu neunundvierzig Scharen wohl geordnet verrichteten die Reiter ihren Dienst, gaben stets Kunde voneinander, brachten Botschaft ins Tal, holten Brot und Hafer von dort, verweilten aber nirgends länger als geboten. Ein jeder hatte seine Aufgabe und ein jeder erfüllte seine Pflicht. Hier und da fanden sie zerstörte Siedlungen oder herrenloses Vieh, seltener Flüchtende und Getötete gar nicht. Von kleinen Häuflein grausig Entstellter, die scheinbar ziellos erschienen und verschwanden, wurde nun immer häufiger berichtet. Wie befohlen, vermieden die Reiter den Kampf mit ihnen. Doch gelang auch keine Verfolgung für längere Zeit. Bis zur Wintersonnenwende hatte man das Heer der Lebenden Toten nicht aufspüren können.

Der Schar des jungen Mannes war ein Weg zugefallen, der sie bis zu den Ländereien der Zwerge brachte. Dort waren schon viele seiner Vorfahren zu Gast gewesen und auch wenn es zwischen seinem Stamm und ihrem nicht immer freundlich zugegangen war, so waren sie dem ermordeten Herrscher stets ergeben gewesen und hielten seinem Erben ebenso die Treue. Darum überraschte es den jungen Mann nicht, dass er hier, am Eingang des Passes, bereits erwartet wurde und dankte dem Schicksal, als man ihn zu einer ruhmreichen Hexe des Zwergenkönigs führte.

Mit den wenigen Worten ihrer Sprache, derer er mächtig war, grüßte er sie im Namen seiner Sippe und dankte sittsam für den angebotenen Tee. Sodann fragte er: „Sage mir, ist es ein Heer von Geisterwesen, das wir verfolgen, dass wir es nicht finden können oder haben die Lebenden Toten unser Land bereits verlassen?“

Und sie antwortete: „Geisterwesen sind sie, aber an Leiber gebunden. Wir halten die Pässe hier und die Rebellen halten die Pässe dort. Weder können sie unbemerkt beschritten werden, noch würde man die Lebenden Toten kampflos durch die alten Berge ziehen lassen, denn sonst wüsste ich davon. Dies sind nicht die Gründe, warum ihr den Feind nicht finden werdet. Im Boden unter Eis und Schnee erwartet der größte Teil ihres Heeres den Marschbefehl im Frühling. Denn sie müssen nicht essen, trinken, rasten oder schlafen und die Kälte macht ihnen nichts aus. Ihr müsstet das ganze Hügelland drei Ellen tief durchpflügen, um sie alle zu finden.“

Der junge Mann verstand nicht, also fragte er weiter: „Aber wenn die Kälte ihnen nichts ausmacht, warum nutzen sie dann nicht ihren Vorteil und bekämpfen uns im Winter?“

Da seufzte die Hexe tief und sprach leise, aber klar: „Weil sie nicht gekommen sind, um zu kämpfen, sondern um zu ernten. Sie sahen ein geschwächtes Land und sind zum Entschluss gelangt, dass es reif ist. Die Gräber im Hügelland waren ihnen wie Roggen, der jetzt fast gänzlich gesammelt ist. Doch nach der Schneeschmelze holen sie sich den Weizen.“

Lang sprach die Hexe des Zwergenkönigs zu dem jungen Mann. Sie erzählte ihm von den vermessenen Seelen, die sich vor den Toren des Totenreichs seit Anbeginn der Zeit ansammeln, da sie sich weigern, dort einzukehren. Sie erzählte ihm von den geheimen Worten, mit denen Jene sich rufen, unterwerfen und in Leiber sich kleiden lassen. Sie erzählte ihm davon, wie diese geheimen Worte einst mit gestohlenem Wissen erdacht worden waren, wer sie kennen musste und zu was der werden würde, der vielfach Gebrauch von ihnen machte. Von dieser Natur mussten die Heerführer der Lebenden Toten sein: selbst Lebende Tote, doch mit den verfallenden Seelen noch in den eigenen Leibern. Leibern, die sich der sichtbaren Welt mit der Zeit entzogen, sodass sie nur in der Unsichtbaren noch verletzt werden können. Während man für die wandelnden Leichname keinen Namen hatte, wurden diese besonderen Lebenden Toten von den Zwergen mit vielen Namen benannt: Schattenfleisch, weil sie das Sonnenlicht meiden und ihre Leiber nur im Schatten erscheinen können, wie sie zu Lebzeiten gewesen waren. Zeitdiebe, weil sie ihr falsches Leben durch den Raub an den Jahren der Lebendigen erhalten. Silbersklaven, weil sie dem Fluch des Silbers unterworfen sind. Schwertzungen, weil ihre Worte wie Schwerter in die Herzen fahren. Lügenkönige, weil sie die Lüge ewigen Lebens leben und mit der Verbreitung dieser Lüge sich zu Königen unter den Lebenden Toten aufschwingen. Zumindest drei von ihnen hatten sich vor der Grenzfestung gezeigt und jeder einzelne müsse vernichtet werden, um das Heer des Feindes endgültig zu besiegen. Denn sonst würde sich jeder der erschlagenen Gegner rasch wieder erheben und sich zugleich die Leiber der gefallenen Freunde beim Feind einreihen. Denn zahlreicher noch als die unbestatteten Toten in den Böden dieses kriegerischen Landes, zahlreich wie die Sandkörner der Strände sei die Zahl der vermessenen Seelen vor den Toren des Totenreichs. Darüber sprach die Hexe des Zwergenkönigs so lange, bis der Tee getrunken, erneut gekocht und erneut getrunken war.

Der junge Mann wollte sich nun schon auf den Weg zu seinem Herrn machen, um ihm zu berichten, was er erfahren hatte, da fiel ihm eine weitere Frage ein. So lud ihn die Hexe ein, noch etwas zu bleiben, mit ihr zu beten und zu speisen. Und für die Antwort brauchte sie so lange, bis die Speisen verzehrt waren. Der junge Mann wollte sich nun zu Bett legen, da es für einen Aufbruch schon zu spät war. Da fiel ihm eine dritte Frage ein. Da lud ihn die Hexe ein, noch etwas zu bleiben, mit ihm zu trinken und Pfeife zu rauchen und sie beantwortete ihm die Frage, bis das Bier getrunken war und sie die Pfeife sieben Mal gestopft hatten. Sodann schlief der junge Mann von Mitternacht bis Morgengrauen und machte sich schließlich auf den Weg zu seinem Herrn.

Diesen fand er in seinem Hause vor, wo Rat gehalten wurde von Vasallen und Rebellen, Hexern und Geistlichen, den frommen und den falschen. Doch saß der Herr nicht am Kopf der Tafel, sondern hatte diesen Platz dem Schlichter des faulen Friedens überlassen. Die Gesandten aus den hohen Mooren, den dunklen Wäldern und von den alten Bergen sagten nämlich, dass die Bedrohung, auch wenn sie in seinem Land begonnen hätte, wohlmöglich weit über die Vasallen des Herrn hinausginge. Das hinderte viele aber nicht daran, anzuzweifeln, ob die vermeintliche Bedrohung überhaupt noch gefährlich sei. Denn obwohl der fromme Krieger von seiner verlorenen Schlacht berichtete und auch die Hexer und Geistlichen jetzt ohne Zögern über die Lebenden Toten aus früherer Zeit erzählten, war diese Wahrheit schwer hinzunehmen. Besonders die Älteren klammerten sich an die Hoffnung, dass der Feind so schnell wieder gegangen sei, wie er gekommen war. Vielleicht ans Ende der Welt, wo die Gewohnheit ihres Denkens die grauenvolle Tatsache besser ertragen konnte. Die Nachrichten der Reiterscharen aus dem Hügelland gaben ihrer Hoffnung Nahrung, da man ja das Hauptheer der Angreifer nicht hatte finden können. Argwöhnisch wurden sie, als der junge Mann berichtete, was er von der Hexe des Zwergenkönigs erfahren hatte. Und zornig, als er vor dem Angriff zur Schneeschmelze warnte. Ob er denn wolle, dass man jetzt neben den Türmen und Mauern auch noch jeden Zaun und Weiler über Jahre hinweg bewachen solle? Ob er denn begreifen könne, in welche Armut man dadurch zurückgeworfen würde? Ob er in seiner Jugend die Worte der Hexe überhaupt verstanden hätte? Ob die alte Dienerin des Zwergenkönigs denn ihren Verstand noch ganz beisammenhätte?

Der junge Mann begann, mit gut gewählten Worten zu antworten. Worte, die Respekt vor dem Alter ausdrückten, Mitgefühl für die Verunsicherten, ohne sie dem Verdacht der Feigheit auszusetzen. Die Möglichkeit des Irrtums einräumend wog er sie gegen die Pflicht zur Vorsorge ab. Er hätte die Gemüter gewiss damit beruhigt. Doch da begannen die falschen Nonnen und Mönche, im Saal gut verteilt, lachend ein Lied anzustimmen:

„Hört nicht auf die alte Zwergen-Zipfel-Mütze!

Habt doch alle mehr Verstand!

Sucht rasch bess‘re Zauberstäbe euch als Stütze!

Neue Hüte braucht das Land!“

Da brausten die Versammelten wieder auf. Die Zwergenfreunde fragten, ob man die alte Hexe, die Älteren, ob man die guten Sitten beleidigen wolle. Und die falschen Nonnen und Mönche sagten schmunzelnd, dass sie damit alle verspotten würden, die sich damit verspotten lassen wollten. So verstand keiner, was eigentlich gesagt worden war, aber alle merkten sich die Worte.Da dachte der junge Mann an den Teil des Gesprächs, von dem er im Saal nichts berichtet hatte. Er dachte an die zweite Frage, die er der Hexe des Zwergenkönigs gestellt hatte:

„Du sagst, dass der Feind gekommen ist wie ein Rudel Wölfe, dass einen blutenden Bullen reißen will. Und dass er ohne Mühe ganze Menschenalter auf seine Beute lauern kann. Er mag zwar heute darauf hoffen, ein geschwächtes Land zu erobern. Doch in den Tagen der Großeltern hätte er ein noch viel schwächeres Land noch viel einfacher erobern können. Also sage mir, warum kommen sie heute, warum kamen die Lebenden Toten nicht schon vor meiner Geburt?“

Und angesichts der zornigen Vasallen und des frechen Lieds erkannte er erst jetzt die ganze Bedeutung der Antwort:

„Ein Feind wie dieser kann in diesem Teil der Welt nicht darauf hoffen, ein Land zu erobern und lange zu behalten. Er kommt, um uns ausbluten zu lassen, zu fressen und wieder zu gehen. Ein Feind wie dieser kann in diesen Tagen nicht darauf hoffen, unbemerkt ein Land auszuplündern und ohne Verfolgung wieder zu verschwinden. Er kam nicht ohne Einladung und kann ohne Hilfe auch nicht wieder gehen. Ein Feind wie dieser hätte hier in den Tagen deiner Großeltern nur Ruinen vergangener Tage vorgefunden. Erst heute, wo wir auf den Ruinen wieder Häuser bauen, wagen sich auch seine Helfer wieder hervor. Die, die nicht ahnten, dass aus dem Kalb, das wir waren, ein kräftiger Bulle werden würde und sich nun vor dem mächtigen Stier sorgen, zu dem wir werden könnten. All die Graukatzen, Krähen, Schakale, Käfer und Würmer, die in Erwartung des Festschmauses fiebrig schon der Wölfe Fraß-Lied singen, hätten sich damals kaum um uns geschert. Daher kamen die Lebenden Toten nicht vor deiner Geburt und sie wären auch heute nicht gekommen, wenn sie nicht Witterung aufgenommen hätten ob der noch unverheilten Wunde des Verrats. Jetzt müssen wir um unser Leben kämpfen. Aber falls wir siegen, werden wir dennoch nicht sicher sein, so lange sie blutet.“

Und sie hatte ihm davon erzählt, wie sie die Würmer im Lande zum ersten Mal das Fraß-Lied hatte anstimmen hören, das ihr überliefert worden war aus früherer Zeit. Ein Lied, dass jemand, der es gänzlich kennt, nicht ohne Pein anhören kann und so garstig, dass niemand gern darüber spricht. Dessen einzelne, unverbundene Strophen leicht und frisch daherkommen wie heller Wein. Manche handeln von lustigen Namen, hübschen Waren, Narrenschläue und neuen Hüten. Als die Hexe sie ihm vorsang, merkte der junge Mann, dass er sie kannte. Stromauf und Stromab hatten die falschen Mönche und Nonnen sie in den letzten Jahren gesungen.

„Dies ist das Fraß-Lied, das aus früherer Zeit, über das nur die Störenfriede sprechen. Mögest du es nie vergessen. Möge es dir immer garstig sein“, hatte die Hexe gesagt, als sie die letzten Bissen verspeisten.


DIE SCHLACHT

Nach dem Winter kam der Frühling. Das Volk war zu den Waffen gerufen worden in nie dagewesener Zahl. Es hatte davon gehört, dass von den Inseln und aus den Ländern jenseits der Nachbarländer Krieger zur Hilfe eilten. Es hatte davon gehört, gegen welchen Feind man ziehen würde. Aber die meisten im Land lebten noch immer in einer Welt, in der es die Lebenden Toten nur in Geschichten gab. Also feierte man die Ankunft der längeren Tage weit und breit wie eh und je.

Der Herr des jungen Mannes, der Erbe des gemordeten Herrschers, hatte sich erneut dafür entschieden, auf der Rat der wenigen anstatt der vielen zu vertrauen. So verfolgte er den riskanten Plan, den Feind so schnell wie möglich mit allem, was er hatte, auf offenem Feld zu stellen. In den Tagen der Schneeschmelze postierte er die Abteilungen des Heeres um das Hügelland herum und gab den Marschbefehl erst, als er jede an ihrem Platz wusste. Fünfundzwanzig Tage lang zog er die Schlinge langsam enger. Doch er wusste, dass der Feind ihm noch immer durchs Netz schlüpfen konnte. Daher bot er ihm, sobald er gesichtet worden war, nur mit einer Abteilung die Schlacht an, während er die übrigen Kräfte in Eilmärschen heranführte. In einer warmen Vollmond-Mitternacht schloss sich die Falle. Nur die Boten blieben auf den Pferden, der Rest der Reiterei kämpfte zu Fuß. Neunhundert versilberte Pfeile waren ausgegeben worden, der Rest der Bogenschützen kämpfte mit dem Beil. Viele trugen Öl und Fackeln in die Schlacht, aber nicht genug. Am Ende, das wussten alle, würde es die schiere Kraft von Armen, Beinen und schlagenden Herzen sein, die allein durch ihre Zahl den Sieg würde bringen müssen.

Von der zuvor berichteten scheinbaren Unordnung der Lebenden Toten gab es zu Beginn der Schlacht keine Spur mehr. Geschlossen rückten sie heran und ihre vorderen Linien waren keine Lumpengestalten, sondern Schwerbewaffnete mit gesenkten Lanzen. Sie scherten sich nicht darum, von den Lebenden aufgespießt zu werden, sondern kamen trotzdem näher, um ihrerseits zu töten, bis ihnen die Schädel eingeschlagen wurden. Die Lebenden wechselten die Linien aus und hielten die Stellung, bis die beiden nächsten Abteilungen des Heeres heran waren und den Kessel schlossen. Es heißt, zuerst hätten ihre Befehlshaber es Wahnsinn genannt, dem Feind jeden Fluchtweg zu verschließen. Doch sie ließen von der gewohnten Kriegskunst ab und gehorchten dem Befehl. So verging die erste Stunde der Schlacht.

Bald war es so weit, dass alle Linien ausgewechselt waren und die erste erneut gegen den Feind antreten musste. Da begannen einige zu zögern, was der Feind zum Ausbruch zu nutzen versuchte. Später behaupteten manche, der Herr hätte nur unter Tränen den hinteren Linien den Befehl geben können, die Front für die vorderen zu schließen. So kämpften die vorderen Linien weiter, nicht mit Mut, sondern mit schierer Todesangst. Erst als die Gefallenen sich schon auftürmten, verschafften sie damit den Überlebenden kurze Atemluft. Doch bald kam Bewegung in die Leiber, denn nicht nur kletterten die Lebenden Toten achtlos über sie hinweg. Man sagt auch, dass es den Heerführern des Feindes geradewegs während der Schlacht gelang, die eigene Zahl wieder zu vergrößern mit ihrer dunklen Kunst. So vergingen die zweite und die dritte Stunde der Schlacht.

Obwohl allen erklärt worden war, dass die, gegen die man kämpfen müsse, niemandes Verwandte mehr seien, erkannten nun immer mehr der Krieger bekannte Gesichter in den Reihen der Feinde. Man sagt, viele schlugen die Gesichter von Brüdern, Vätern und Söhnen ein. Doch wenn dies stimmt, dann schlugen viele auch die Gesichter der Schwestern, Mütter und Töchter ein, denn es gab ja keinen Unterschied zwischen Männern und Weibern bei den Lebenden Toten. Doch niemand sagt, dass dies ihm selber zugestoßen sei, sondern stets nur jemand anderem. Inzwischen war eine weitere Abteilung des Heeres angerückt, ohne Platz zum Kämpfen zu finden. Da wurden Krüge mit Öl und brennende Fackeln über die Köpfe der Vorderen geworfen. Erst dadurch gelang es, endlich wieder Linien auszuwechseln. Doch bleibt für immer ungewiss, wie viele Feinde und wie viele Märtyrer das Feuer verschlang, das keinen Unterschied machte zwischen Freund und Feind. Als der Morgen graute, war das ganze Heer herangerückt und schloss einen zweiten Kessel um den ersten. Dem Feind musste klar geworden sein, dass er in dem Getreide, das er hatte ernten wollen, nun zu ersticken drohte, denn er unternahm immer kühnere Ausbruchsversuche. Hatte er bislang nur erhobene Leichname kämpfen lassen, schonte er seine mächtigsten Scheusale jetzt nicht mehr. Ihre Ritter nannten manche sie später, obwohl sie wie alle Lebenden Toten in dieser Schlacht zu Fuß kämpften. Gesichter konnte man auch bei denen nicht erkennen, die offene Helme trugen, sondern nur wabernde Schatten. Mit langen, makellosen Schwertern hieben sie sich Gassen frei, während sie unerträgliche Schreie ausstießen, die niemand je vergessen konnte. Als die Sonne sich über den Hügeln des geschundenen Landes erhob, gelang ihnen der Stoß durch den inneren Ring. Neunhundert versilberte Pfeile empfingen sie auf dem freien Feld vor dem zweiten Ring, doch die Woge der Lebenden Toten war in Bewegung gesetzt und machte nicht mehr Halt. Wer darauf gehofft hatte, dass nun das Sonnenlicht den Kampf alleine weiterführen würde, wurde eines Besseren belehrt. Die Hexen hatten vorhergesagt, dass es die Feinde schmerzen und schwächen würde. Zur Hälfte war das richtig. Im Tageslicht verfielen sie in wilde Raserei, der die Krieger des zweiten Rings kaum stand hielten. Auch hatte der Feind seine Stoßrichtung mit der Sonne im Rücken gewählt.

Es heißt, die Heerführer der Lebenden Toten seien in Flammen aufgegangen, als sie auf den Boden vordrangen, auf dem man vor der Schlacht die Asche des wortgewandten Priesters verstreut hatte, der im letzten Herbst von ihnen gemordet worden war. Viele wollen ihn in diesem Augenblick gesehen haben. Danach erlahmte der Angriff.

Es heißt, fast sieben Stunden hätte die Schlacht angedauert, von Mitternacht bis Morgengrauen. Doch bis zum Nachmittag gingen die Lebenden über das Feld und schnitten Köpfe, Hände und Füße ab. Und es dauerte noch vier Tage, bis alle Leiber verbrannt waren. Nur wenige der Märtyrer wurden geehrt. Obwohl die Priester ihnen sagen, dass es falsch ist, vermeiden viele der Hinterbliebenen es bis zum heutigen Tag, die Namen der in dieser Schlacht Gefallenen auszusprechen. Sie tun dies, weil sie sich davor fürchten, ihre Lieben als Widergänger herbeizurufen. Jemand sagte dem Herrn am Morgen, dass der Tag nun ihm gehöre. Aber er gab der Schlacht keinen Namen. Vielleicht hätte er dem Heer zu seinem Sieg gratulieren sollen. Aber er fand keine Worte. Man konnte sich nicht erinnern, jemals so viele junge Männer an einem Ort versammelt zu haben. Aber keinem war die jugendliche Pracht geblieben.


DIE DRITTE FRAGE

Auf den Frühling folgte der Sommer, ein Jahr verstrich und es wurde erneut Frühling. Vereinzelt wollten einige noch hier und da wandelnde Leichname gesehen haben, doch wenn die Reiter sie suchten, fanden sie sie nie und oftmals stellte man fest, dass nur von Trugbildern berichtet worden war. Kein Heer der südlichen Nachbarn überschritt die Landesgrenzen und die Rebellen von den alten Bergen unterwarfen sich dem Schlichter des faulen Friedens. Dieser gab den Befehl, dass von nun an alle ihre Verstorbenen verbrennen müssten. Doch die Geistlichen, die frommen wie die falschen, sagten, dass alle ihre Toten gemäß den Sitten ihrer Ahnen bestatten mögen, jeder seinem Stamme gemäß. Und so ist es bis heute geblieben.

Anfangs fragten noch sehr viele, was die Lebenden Toten überhaupt gewollt hatten. Anfangs sprachen viele noch darüber, wie man mit solcherlei Bedrohung künftig umgehen solle. Anfangs fragten noch viele, ob es einen besseren Weg hätte geben müssen, mit der Plage umzugehen und ob die Opfer nicht zu hoch gewesen seien. Und immer öfter fragten Arme und Reiche, erst noch hinter vorgehaltener Hand, warum die alten Hexen und Geistlichen sie nicht rechtzeitig vor dem Grauen gewarnt hatten. In diesem Jahr wurde ein lustiges Lied so bekannt, dass es bald von Fährleuten, Marktweibern und Tagelöhnern, zuweilen auch von Nonnen und Mönchen gesungen wurde.

„Hört nicht auf die alte Zwergen-Zipfel-Mütze!

Habt doch alle mehr Verstand!

Sucht rasch bess‘re Zauberstäbe euch als Stütze!

Neue Hüte braucht das Land!“

Schließlich ersann der Schlichter des faulen Friedens, der selbst ein ruhmreicher Hexer war, seine Lösung für die Zukunft. Er rief einen Waldgeist herbei und gab ihm sechs Hexer an die Seite, die in der südlichen Zauberkunst gebildet waren. Er machte sie zu seinen Amtleuten, ausgestattet mit Vollmacht, Siegel und dem Auftrag, die Schwarzen Künste zu verfolgen und die eigene Zahl zu vergrößern. Nun sollte das Volk sich nicht mehr fürchten müssen. Doch kaum nachdem er den Herren, Stämmen und Vasallen im Land die Zustimmung für seinen Plan abgerungen hatte, setzten die falschen Nonnen und Mönche sich südliche Zauberhüte auf, schworen dem Waldgeist die Treue und bald wusste keiner mehr ihren Orden von den neuen Beschützern zu unterscheiden. Da dachte der Mann, der nicht mehr jung war, an die dritte Frage, die er der Hexe des Zwergenkönigs gestellt hatte:

„Was genau ist es, dass wir haben, was sie uns nehmen wollen? Sind sie wirklich nur dafür hier, um ihr Heer mit Leichen aufzufüllen? Könnten sie das nicht auch dort, wo die Menschen zugleich zahlreicher und wehrloser sind als hier? Auch verstehe ich nicht, was ihre Helfer sich davon versprechen, einen solchen Feind so sehr erstarken zu lassen. Wer würde so etwas tun? Müssen sie sich am Ende nicht selbst vor denen fürchten, denen sie geholfen haben?“

Und erst jetzt, ein Jahr nach dem Ende der Plage, erkannte er, wie beunruhigend die vielen fehlenden Antworten geblieben waren. Vielleicht, dachte er nun, sollte man nicht unterschätzen, wie wertvoll ein ganzes Volk für sie gewesen wäre, es abzuschlachten und in ihre Streitmacht einzureihen. Oder wollten sie hier etwas aus früherer Zeit gewinnen, dass längst vergessen wurde? Hatten ihre heimlichen Helfer ihnen etwas versprochen, was wertvoll für sie ist und ihre Taten waren für einen geheimnisvollen Lohn begangen worden? Oder hatten sie gänzlich rätselhafte Gründe gehabt? Die Hexe hatte jedenfalls nur eine halbe Antwort geben können:

„Was die Lebenden Toten betrifft, so kann ich dir nur sagen, dass ich das letztlich selbst nicht weiß. Da sie an uns keine Forderungen stellen, werden wir es wohl nie erfahren. Denn entweder müssen wir sterben oder sie alle vernichten. Was aber ihre Helfer betrifft, so wisse: Jeder, dem es nur ausreichend missfällt, dass dieses Land einen Thron und Recht und Sitte hat, würde das tun. Jeder, der sich nur genug davor fürchtet, dass aus unserem Geschick und unserem Wohlstand eines Tages Macht und Reichtum werden könnten. Jeder von ihnen, sofern Mittel und Gelegenheit es zulassen. Solche Leute gibt es im Süden und solche Leute gibt es hier. Leider fürchten sie sich vor jenen, derer sie sich bedienen weniger, als sie es um ihrer selbst willen tun sollten. Es ist ein Spiel für sie.“

Damals, im Winter der Plage, hatte sie ihm von dem alten Spiel erzählt. Dem Spiel, das jene Fremden spielen, die durch Gier zu Macht gelangten. Das sie mit den Völkern spielen, die sie zu unterjochen sich erwählen. Es wird mit harmlosen Geschenken begonnen, verteilt von Unbekannten mit lustigen Namen, verteilt an wenige, damit viele sie begehren. Sodann werden die Geschenke zu hübschen Waren, die man mit Betrug und Narrenschläue am besten sich erwerben kann. Wenn dann die Leute sich mehr mit ihren Streichen beschäftigen, als mit der Eltern Gebote, dann kommt die Zeit, neue Hüte unters Volk zu bringen. Hüte, die nach Klugheit riechen und wie Reichtum schmecken, aber beides nicht gewähren. Tragen erst viele die neuen Hüte für längere Zeit, werden einige von ihnen anfangen, sich die lustigen Namen der Fremden zu geben, sodass ihr Klang bald kaum noch fremd erscheint.

Das Spiel wird fortgesetzt mit einer plötzlichen Wende hin zu grauenhaften Schrecken. Hungersnöte, Bestienhorden, Seuchen oder Verführer, die die Jugend aufhetzen. Für die, die das Spiel begonnen haben, ist es nicht wichtig, wie sehr dadurch das Land verwüstet wird. Wichtig ist, dass der Schrecken als nie dagewesener Fluch erscheint, der von den alten Hüten nicht zu lindern ist.

Denn dann kann der letzte Teil des Spiels beginnen: Die Fremden haben heimlich unter den Leuten mit den neuen Hüten und den lustigen Namen schon ihre Statthalter ernannt. Sie versprechen Linderung, ob sie sie bringen können oder nicht. Und sie werden dabei nicht versäumen, alle alten Wege als Wege in die Schrecken zu verleumden und das Grauen zum Versäumnis alter Hüte zu erklären. War es nur grauenvoll genug, so wird man ihnen Glauben schenken. Da Seuchen vergehen, Bestienheere sich zerstreiten, Hungersnöte schließlich enden und auch verdorbene Jugend einmal selber Kinder hat, wird man sie bestätigt sehen. Dies hatte die Hexe gesagt, als das Bier getrunken war und die Pfeife zum siebten Mal erloschen:

„Viele Varianten hat das Spiel, doch diese hier wird mit uns gespielt. Unterliegen wir gegen die Lebenden Toten und bleiben sie wirklich hier, werden die Fremden Wege und Heere finden, um die wenigen Überlebenden danach, zum Zeitpunkt ihrer Wahl, zu retten und zu dankbaren Knechten zu machen. Obsiegen wir, werden sie Worte der Lüge und der halben Wahrheit finden, um das Entsetzen des Volkes vor ihren Pflug zu spannen.“

Nur seinem Herrn und seinen engsten Vertrauten hatte der Mann, der nicht mehr jung war, von der Warnung der Hexe des Zwergenkönigs berichtet. Doch als die neuen Zauberhüte sich im Land verteilten, konnte er sie nicht mehr finden und die Zwerge wurden noch wortkarger als sonst.

Was seinen Herrn betraf, so wollte dieser den neuen Freunden, die ihnen einst gegen die Lebenden Toten zur Seite gestanden hatten, nun seinerseits helfen. Denn sie hatten ihm Nachricht geschickt, dass sie nun der gleichen Bedrohung gegenüberstünden. Weil seine Omen aber unheilvoll waren, baten seine Vasallen ihn, nicht selbst zu gehen, sondern andere zu schicken. Diesmal schloss der Mann, der nicht mehr jung war, sich dem Rat der vielen, nicht der wenigen an. Der Herr aber sagte ihnen das Folgende:

„Die Schlacht, der ich keinen Namen gab, gereicht mir nicht zum Ruhm. Wer an mich denkt, der denkt an das Grauen dieser Nacht. Wenn ihr das Land morgen nicht in den Händen neuer Hüte sehen wollt, dann muss ich beweisen, dass das Glück mit mir ist und ich die Lebenden Toten erneut schlagen kann. Kehre ich siegreich zurück, dann verspreche ich euch, dass ich mir den Thron des Landes nehmen werde. Und dass ich dann Schluss machen werde mit den neuen Hüten und den falschen Nonnen und Mönchen!“

So vertraute er erneut auf den Rat der wenigen, nicht der vielen, und zog in den Krieg. Er sollte nie wiederkehren. Die Schlacht ohne Namen war noch lange nicht entschieden. Doch die Jahre vergingen und die Fremden siegten nicht bei ihrem Spiel, wenngleich sie nicht die Mittel verloren, es weiter spielen zu können. Die Kinder, die nach der Plage geboren wurden, haben nun selbst ihre ersten Kinder. Wer das Grauen dieser Nacht gesehen hat, versucht bis heute, es zu vergessen. Und der Mann, der schon lange nicht mehr jung ist, erinnert sich kaum noch daran, dass er einst in einer Welt lebte, in der es die Lebenden Toten nicht gab.