Test
"Gedenke der Ahnen, denn ihr Schicksal offenbart den Göttlichen Pfad. Siehe: Die Brücke zur Zukunft heißt Vergangenheit."
Inhaltsverzeichnis
Das Werden der Völker
Trigardonen neigen dazu, die in den Sagen ihrer Vorfahren beschriebenen Ereignisse für historische Fakten zu halten. Daher beginnt die Weltgeschichte für sie mit den mythischen Vorgängen, die den Zyklus von Tag und Nacht in Gang setzten, dem „Anbeginn der Zeit“. Der zuvor gewesene paradiesische Ursprungszustand, die „immerwährende Tagnacht“, wurde durch Streit unter den Menschen, der schließlich auf die Götter übergriff, unterbrochen. Dieser Zustand wird unweigerlich eines Tages wiederkehren. Einzig, ob die Menschheit Teil dieser vollkommenen Harmonie sein kann, bzw. welche schrecklichen Strafen sie auf dem Weg dahin noch auf sich ziehen mag, ist offen.
Der Streit der Weltväter veränderte aber auch das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern: Riasion (die Sonne) und Riasina (der Mond), sowie Riaranjoscha (das Wasser) und Riamodan (das Feuer) zerstritten sich, weil sie jeweils einen anderen der zänkischen Brüder begünstigt hatten. Da schickte der Sohn der Himmelsgötter, der gerechte Riason (der Gott der Dämmerung), seine Mutter Riasina in die Nacht und seinen Vater Riasion in den Tag. Riamodan und Riaranjoscha wies er ebenfalls verschiedene Herrschaftsräume zu. Riaplot (die Erde) zürnte den Menschen wegen ihrer Zerstörungswut. Seit dem straft er sie mit Arbeit, um sie Demut zu lehren, anstatt ihnen die Früchte der Erde vorbehaltlos zu schenken.
Doch ehe die Menschen Einsicht zeigten, begingen sie schlimmeren Frevel: Botan, ein Nachkomme der Weltväter, der ihr Wissen über die göttlichen Mächte besaß, schwang sich zum Herrn der Sterblichen auf. Dabei gewann er Riamodan als Verbündeten, der ihm viele Geheimnisse der Götter verriet und im Gegenzug die Dienste der Menschen bekam, was ihm im Streit mit den anderen Göttern einen kurzfristigen Vorteil verschaffte. Botan missbrauchte die göttliche Kraft, Leben zu formen. Er band Lebende und Tote sowie viele Wesen der Geisterwelt mit Zauberei an seinen Willen, schuf perverse Dämonen und Menschtiere und richtete ein Blutbad unter Jenen an, die sich ihm nicht unterwerfen wollten, bis kaum noch Menschen lebten. Die anderen Götter aber erbarmten sich der Überlebenden, gewannen Botans Schüler für sich, verrieten ihnen seine Geheimnisse und bewirkten, dass er mit der eigenen Macht vernichtet wurde.
Als Botan besiegt war, wurde Riamodan in die Unterwelt, das Reich der allverzeihenden Riadugora (der Wind- und Todesgöttin) verbannt. Gemeinsam mit ihm verbannten die Götter Riasina, weil sie im Schiedsgericht der Götter für Riamodan Partei ergriffen hatte. Spätestens seit dieser Zeit kann man im Nachthimmel die Unterwelt erblicken, wie sie von den Sternen, den Herdfeuern der Ahnen, erleuchtet wird.
Erst jetzt entstanden nach siebenfaltiger Vorstellung die Zwerge und Hobbit. Die Götter schufen sie aus den Kleinsten der Menschen, die Botans Streben entgangen waren, um seine Anhänger zu vernichten, die noch immer die Menschheit knechteten. Diese Überlieferung deckt sich insofern mit der des Kleinen Volkes in Trigardon, als dass es seinen Ursprung ebenfalls in einem Befreiungskampf gegen die Mächte der Verderbnis sieht, auch wenn sie sich die Weltväter natürlich eher wie Zwerge, nicht wie Menschen vorstellen. Das Kleine Volk genießt bei den Arboniern ungebrochenen Respekt für die Taten seiner Ahnen in der Vorzeit. Doch unter den Flutländern sind Stimmen laut geworden, nach denen die Zwerge und Hobbit damals ihre Aufgabe im Schicksalslauf erfüllten und nun nicht länger gebraucht würden.
Die bis hierhin beschriebenen Ereignisse werden in Trigardon nicht ernsthaft datiert. Spekulationen, ob sie nun dreitausend oder dreißigtausend Jahre her sind, bleiben bedeutungslos. Es sind die Mythen, mit deren Hilfe erklärt wird, warum die Welt ist, wie sie ist. In einem fließenden Übergang setzen erst danach die Überlieferungen der Ahnenkulte einzelner Sippen und die frühesten, blassen Erinnerungen des kollektiven Gedächtnisses ein. Zumeist beginnen die verschiedenen Erzähltraditionen mit göttlichem Rat oder Befehl, oft vermittelt durch legendäre Lehrergestalten und heroische Stammhalter/innen.
Die wichtigsten (weil für die Gesamtheit der Gläubigen verbindlichen) dieser Anweisungen haben es in die in jüngerer Zeit entstandene Heilige Schrift geschafft. Dieser Text beschränkt sich aber in seinen erzählenden Anteilen nur auf das unbedingt Notwendige und hat nicht den Anspruch, den reichen Sagenschatz der Flutländer und Arbonier zu verschriftlichen.
Timor, der König des „Volkes der kriegerischen Bauern“ (ein inzwischen verschwundener arbonischer Teilstamm) wird immerhin namentlich erwähnt. Im „großen Gleichnis“ erklärt er den Menschen, wie sie fromm leben sollen: In dem sie für Glück danken, anstatt ihr Unglück zu beklagen, welches sie durch Freveltaten selbst über sich brachten.
Beim „Gesetz der Verstoßenen“ kennt die mündliche Überlieferung unterschiedliche menschliche Vermittler, die Heilige Schrift legt sich auf keinen bestimmten fest. Hier verfügen die Götter, dass die Menschen nicht mehr mit den Unfruchtbaren unter ihnen schlafen sollen, sondern sie aus ihrer Gemeinschaft verstoßen müssen, um ihre Gesunden von der Kinderlosigkeit zu heilen. Die Unfruchtbaren sollten in die Wälder gehen und sich verstecken. Zum Ausgleich für ihre Kinderarmut schenkten ihnen die Götter ihren Schutz und wundersame Langlebigkeit. So entstanden die Elben, die man auch „die Verstoßenen“ nennt.
In der Heiligen Schrift geben die Götter diese Ratschläge und Anweisungen in schlimmen Zeiten, in denen es nur wenige Menschen gibt, die sich mühsam gegen bedrohliche Menschtiere behaupten müssen und dabei stets in Gefahr sind, vom Pfad der Tugend abzukommen. In diesen Rahmenbedingungen sind auch viele der älteren Heldensagen angesiedelt. Sie beschreiben eine Epoche grausiger Orkkriege.
Das alte Gar
Von den Geschichten über diese Ära sind die Sagen um den Heiligen Danason und die Entstehung des Königreichs von Altgar am einflussreichsten. Man glaubt heute sogar, ein noch aus dieser Zeit selbst stammendes schriftliches Zeugnis in einem jüngst geschehenen Wunderereignis offenbart bekommen zu haben. Die „Geschichte vom Leben und den Taten des Heiligen Danason“ entspricht im Wesentlichen der mündlichen Überlieferung, hebt aber den Titelhelden als Heilsbringer mit halbgöttlichem Blut ganz besonders hervor. In diesem Sagenkreis formen die Königinnen und Könige aus dem Geschlecht der Phadra (einem – ebenso wie die kriegerischen Bauern von Timors Volk – inzwischen verschwundenen arbonischen Teilstamm) ein erfolgreiches Kriegsbündnis gegen die Menschtiere. Es besteht aus vielen kleinen arbonischen, flutländischen, zwergischen und sonstigen (sogenannten „barbarischen“) Königreichen und Volksgruppen in einer Region, die sich über Teile der heutigen Länder Trigardon, Anrea und Winningen erstreckt. Am Ende von Danasons Wirken wird es zum „goldenen Königreich von Gar“ vereinigt.
Die Götter hatten eine klare Antwort darauf, wie die Schande zu tilgen sei: Sie wiesen den frommsten Schmied an, eine heilige Klinge zu schmieden und sie dem frommsten Krieger (der je nach Variante Danason gewesen ist oder namenlos bleibt) zu übergeben. Ihm sollten die Menschen folgen, um die Elben zur Unterwerfung unter das Gesetz der Verstoßenen und zur Verehrung der Sieben zu zwingen – oder sie mit dem Schwert zu richten. Der darauf folgende Krieg sollte grausam und mühselig werden, den Menschen schreckliche Opfer abverlangen und ihnen kaum weltlichen Nutzen bringen, war er doch ebenso für sie als Strafe gedacht. Dennoch blieben sie vorwiegend siegreich im Kampf gegen die Verstoßenen.
Man weiß erstaunlich wenig über das weitere Schicksal des Königreichs von Altgar. Die meisten Erzählungen beschreiben es als einen idealen Staat des Rechts und der Tugend, ohne viele Details zu verraten. Schon bei den tradierten Königs- und Königinnenlisten ist nicht immer bekannt, ob es sich um Gesamtherrscher oder Potentaten kleinerer Teilreiche handelt, in die das Reich offenbar nach einer Weile zerfiel.
Welche entscheidenden Gründe zu seinem Untergang führten und ob er sich eher als langsamer Verfall oder als plötzlicher Zusammenbruch entfaltete, ist unklar. Die Heilige Schrift berichtet davon, dass inmitten von Wohlstand und Sicherheit der Müßiggang zum Sittenverfall führte. Dies gab schlechten Menschen Gelegenheit, „Hass zu säen, um Macht zu ernten“, was einen neuerlichen Krieg zwischen Ischans und Natans Stamm herbeiführte. In Flutland erzählt man sich Geschichten, nach denen die Arbonier aus Gier und Bosheit alle Flutländer aus dem Königreich vertrieben hätten. Kundige berichten auch von Flüchen, die verschiedene Angehörige des Königsgeschlechts aufgrund ihres Hochmutes auf sich gezogen hätten, was zu Kinderarmut, komplizierten Erbfolgeregelungen und schließlich zu Thronkämpfen führte.
Die Geschichtsbilder der südlichen und südwestlichen Nachbarregionen Trigardons, heute die Länder Anrea und Winningen, weichen von diesen rein moralischen Erklärungsmustern ab. Ins-besondere in Winningen, aber auch im Süden Anreas hat die Bedrohung durch Orks nie wirklich aufgehört. Das Gedenken an ein mächtiges Vorgängerkönigreich, das die Menschen von dieser Plage erlöste, spielt dort keine besondere Rolle. Doch hat man Erinnerungen an durch böse Geister ausgelöste Katastrophen bewahrt, die ungefähr zu der Zeit stattfanden, in der Altgar zerfallen sein muss. In den meisten Varianten ist das etwa vier bis sechs Jahrhunderte her.
Nicht nur die Zerstörungen im Zuge endloser Kriege und das Abreißen der Schriftkultur in Arbon und Flutland legten einen Schleier von Unwissen über das goldene Zeitalter. Späteren Generationen wurde der Zugang zur Vergangenheit auch dadurch erschwert, dass die Vorfahren in der heute so genannten „vergessenen Sprache“ sprachen und schrieben. Sie ist älteren zwergischen Dialekten zwar nicht unähnlich, wird vom Kleinen Volk aber nicht mehr verstanden. Auch die Elben scheinen ihr einige Vokabeln entlehnt zu haben. Die Menschen verwenden sie fast nur noch in alten Namen (z. B. „Dugor Harog“ = „Berg/ Gebirge des Todes“, „Tesch“ = „Pferdeherr/ Reiterkrieger“, „Ystjar“ = „Mutter“, „Dun/ Don“ = „Haus/ Land“, „Gar“ = „Gedanke/ Geist/ Gesetz“ oder „Ria“ als Kennzeichnung des Göttlichen). Ganze Sätze kann niemand daraus bilden. Warum es innerhalb weniger Jahrhunderte zu einem so umfassenden Sprachwandel kam, weiß zwar niemand, ist aber für die Trigardonen auch nicht weiter erklärungsbedürftig. Sprachen ändern sich eben – genauso wie Landschaften und das Wetter.
Der letzte große Stammeskrieg
Die letzten erzählenden Verse der Heiligen Schrift erscheinen zugleich wie eine Ermahnung an gerechtere Zeiten und als programmatischer Zukunftsentwurf. Im Angesicht der anbrechenden finsteren Epoche geben die Götter den Stämmen von Ischan und Natan ein letztes Mal Gesetze für ein gerechtes Zusammenleben. Dass die Sterblichen dafür wieder einmal taub blieben, muss im Text nicht mehr eigens erwähnt werden. Erst Generationen später, als die Heilige Schrift verfasst wurde, sollten sich spirituelle Autoritäten wieder erfolgreich auf diese göttlichen Gebote berufen. Zuvor aber kam es zu einer Abfolge von bewaffneten Auseinandersetzungen unterschiedlicher Reichweite, Intensität und Dauer, die man heute als „den letzten großen Stammeskrieg“ zusammenfasst.
Die Religion will es zwar so, dass Stämme des Ischan und des Natan schon seit je her vorhanden gewesen sind und ihre Friedensunwilligkeit mit den schlechten Seiten der Menschennatur zu erklären ist. Doch ihre heutigen Sitten und Rechtsordnungen, die sie schließlich zu nur noch zwei eindeutig voneinander unterscheidbaren Gruppen machten, erhielten sie wohl erst im letzten großen Stammeskrieg. Man kann sogar annehmen, dass sie sich erst „Arbonier“ und „Flutländer“ nannten, nachdem die Bewohner des Längstals von Arbon und des flutländischen Hochmoores erfolgreich zu militärischen Blöcken geformt worden waren. Ungebrochene Kontinuität der Überlieferung setzt jedenfalls erst in einer historischen Situation ein, in der es keiner Begründung mehr für die Feindschaft zwischen ihnen bedurfte.
Damals fand zwar keine Geschichtsschreibung statt, doch es wurden lange Abfolgen von Lobreden auf die verstorbenen Sippenoberhäupter tradiert (um die 20 bei den ältesten arbonischen Häusern), von denen viele später zum Stoff für Heldenlieder wurden. Daneben ist man davon überzeugt, in bestimmten Ritualen unmittelbar mit den Geistern der Ahnen kommunizieren und auf ausschnitthafte Erinnerungen aus den Vorleben von Hexen und Schamanen zurückgreifen zu können. Und hinter dem Bild idealisierter (eigener) und verdammter (gegnerischer) Führer, hinter den Waffentaten, Überfällen, Verschleppungen, Versklavungen und gelegentlichen Massenmorden werden im Ahnengedenken auch die verwischten Spuren langfristiger Veränderungsprozesse sichtbar.
So scheinen sich viele kleinere Sippen (sprichwörtliche 49) der Flutländer unter strategischem Druck zu 14 Großverbänden zusammengeschlossen zu haben. Obwohl die Kriegsherren den gemeinsamen Oberbefehlshaber durch Wahl bestimmten, handelte es sich dabei fast immer um einen Ehemann, Sohn oder Bruder des Sippenoberhauptes der anh Crul. Zugleich entwickelte sich in Arbon ein System von Heerfolge- und Tributverpflichtungen, ohne dass die Sippenverbände auf Heeresstärke anwachsen mussten. Die Führung lag bei den Familien, die sich als militärisch besonders leistungsfähig erwiesen. Wer Pferde für den Krieg züchten, schlagkräftiges Gefolge versorgen und Waffenschmieden betreiben konnte, behauptete damit den Status der eigenen Verwandten in der arbonischen Aristokratie. Die drei erfolgreichsten dieser Sippen, die anh Rhack, anh Argayne und anh Garesch, die ihre Abstammung noch auf das Geschlecht Phadras zurückführen, machten die Frage des Oberbefehls in der Regel unter sich aus. Immer häufiger wählte man jedoch den jeweils ranghöchsten Kriegsherrn der anh Rhack, deren Stammsitz die dem Flutland am nächsten gelegene Festung (später „Burg Bärenfels“ genannt) war. In den letzten Jahrzehnten des Krieges galt der Heerführer der Arbonier dann schließlich als „edelster Sohn Natans“, dessen Wahl durch die Edlen fast nur noch Formsache war.
Indes waren Flutländer und Arbonier nicht die einzigen Kriegsparteien geblieben. Auch die „Alten Reiche“ der Elben und des Kleinen Volkes hatten ihren Anteil daran, dass der Konflikt immer wieder neu entfacht wurde. Die Sicht der Zwerge auf den Krieg ist bei den Menschen recht gut bekannt, gibt es doch auch heute noch einige Langbärte, die auf gute zweihundert Jahre eigener Erinnerungen zurückblicken können. Sie wissen davon zu berichten, dass ihr Volk im Dugor Harog und rund um das flutländische Hochmoor unzugängliche Enklaven besaß, in denen die politischen Angelegenheiten selbstständig geregelt wurden. Der Zwergenkönig des Hochlandes besaß damals lediglich einen Ehrenvorrang. Doch sie alle lebten unter den gleichen strategischen Grundbedingungen: So lange Arbonier und Flutländer sich gegenseitig an die Kehle gingen, blieben die Sippen des Kleinen Volkes umworbene Verbündete. Sollte sich aber ein Menschenstamm gegen den anderen durchsetzen, würde dieser auch die Macht besitzen, die Unterwerfung der Zwerge zu fordern. Daher tendierten die Führer des Kleinen Volkes dazu, die jeweils schwächere Partei der Menschen zu unterstützen. Diese Überlebensstrategie wurde von drei Faktoren begünstigt: Erstens hatten (und haben) die Zwerge und Hobbit des Hochlandes jede Möglichkeit, arbonischen und flutländischen Heeren nach Belieben den Weg ins Gebiet des jeweils anderen zu erlauben oder zu versperren. Zweitens pflegten sie schon früh freundliche Beziehungen zu ihren östlichen Nachbarn, den Altbergern. Bis zu deren Heimat reichte der lange Arm arbonischer und flutländischer Heerführer damals noch nicht. Und drittens verfolgten die Elben im Dunklen Wald gegenüber den Menschen die gleiche Politik.
Ihre Sicht der Dinge ist im heutigen Trigardon weit weniger bekannt als die Überlieferungen des Kleinen Volkes. Man misstraut den Erzählungen der selbstgerechten Verstoßenen, die bei den menschlichen Genealogien gerne mal dutzende von Generationen überspringen und in denen der letzte große Stammeskrieg als kaum mehr denn Gezänk verfeindeter Hirten erscheint, die sich nicht auf Weiderechte einigen können. Zu allem Überfluss weisen diese frechen Geschichten das verbreitete Motiv des Kinderraubes den Stämmen Natans und Ischans zu, die sich angeblich gegenseitig Königskinder stahlen und die Schuld bei den Elben abluden.
Arbonier und Flutländer nehmen heute an, dass das Gesetz der Verstoßenen während des letzten großen Stammeskrieges zusehends in Vergessenheit geriet, bis sich schließlich nur noch das Volk Galadhons, des Elbenfürsten im Taur Kyriad, daran hielt. Nördlich seines Reiches lebten mehrere andere Gruppen von Verstoßenen, die ihm und sich untereinander nicht immer freundlich gegenüber standen, während sie ihre Territorien mit Zauberkünsten, Abschreckung und unbarmherziger Waffengewalt sicherten. Doch auch für sie war es von vitalem Interesse, sich in wechselnden Bündnissen am Krieg der Menschen zu beteiligen und dabei stets Gründe für seine Fortsetzung zu liefern.
Der Heilige Caroman
Ferangosch, ein Krieger des Kleinen Volkes, erstritt zum Missfallen der Arbonier und Flutländer den Sieg beim Waffenspiel. Doch um Dan der Stämme zu werden, musste er sein Herz durch drei Fragen der Priester prüfen lassen. Phejana und Canuphyra erkannten ihn für unwürdig. Als das Stammesoberhaupt der Arbonier, Caroman Phadrhack anh Rhack, von dem Ergebnis der Danprüfung erfuhr, fühlte er sich an den Festfrieden nicht mehr gebunden und tötete Ferangosch noch während des nächtlichen Gelages. Als daraufhin Arybor anh Crul, das flutländische Stammesoberhaupt, seine Gefolgsleute zu den Waffen rief, flohen die Sippenoberhäupter des Kleinen Volkes im Schutz der Dunkelheit. Auch wenn alle Seiten schließlich ohne größeres Blutvergießen auseinander gingen, sah es nicht so aus, als ob es zu einem weiteren Fest der Freundschaft kommen würde.
Die Nachwelt beurteilt Caromans Verhalten bis heute unterschiedlich. Eine Minderheit der Gelehrten aus beiden Stämmen vertritt die Ansicht, dass ein Dan, der die Prüfung durch die Priesterschaft nicht besteht, sein Leben verwirkt habe. Sie sehen Ferangoschs Tötung also durch das Urteil von Canuphyra und Phejana legitimiert. Die Mehrheit betont den Frevel, der durch den Bruch des geheiligten Friedens am Fest der Freundschaft begangen worden war, wofür Caroman später mit dem Leben bezahlen sollte. Beliebt ist auch der Versuch, beide Lesarten miteinander zu verbinden, indem man dem arbonischen Heerführer unterstellt, seine unausweichliche Bestrafung willig in Kauf genommen zu haben, um die Schlichtung des Stammeskrieges durch einen unwürdigen Dan zu verhindern. Er stand jedenfalls im Zentrum des nächsten göttlichen Eingriffs in die Geschicke der Sterblichen, weshalb man ihn heute als den „Heiligen Caroman“ verehrt.
Noch auf seinem Heimritt durch das Tejadun wurde er von plötzlich aufziehendem Nebel verschluckt und blieb für ein ganzes Jahr verschwunden. Die Erklärung Canuphyras, die Götter hätten ihn entrückt, zögerte die Wahl eines neuen Stammesoberhauptes nur kurz heraus. Als Arybor in den Wochen danach einige überraschende Siege gegen die Arbonier erstritt, wählten diese gegen den Willen der Sippe Rhack Volcan Sarymor anh Garesch zum neuen Heerführer. Die meisten Zwerge verweigerten nach den Ereignissen vom Fest der Freundschaft beiden Stämmen Waffenhilfe, also nahm Volcan ein Bündnisangebot der Elben dankend an.In dieser Situation kehrte Caroman mit göttlichem Auftrag und heiligem Reliquienschwert zurück. Man sagt, er habe ein Jahr lang Zwiesprache mit den Göttern gehalten und erkannt, was nötig sei, um die Kinder Ischans und Natans zum Frieden zu bewegen: Zunächst müssten sie das Gesetz der Verstoßenen erneut durchsetzen und damit Jene unterwerfen oder tilgen, die die Stämme entzweiten. Dafür hatte Caroman von Riamodans Dienern die heilige Klinge erhalten, die schon in Danasons Tagen zu diesem Zweck geschmiedet worden war.
Nun fielen viele Arbonier, vor allem die mit der Sippe Rhack besonders verbundenen Häuser sowie die Bewohner des Tejadun, von Volcan ab und wendeten sich wieder Caroman zu. Auch Arybor beschloss, dem einstigen Feind im Kampf gegen die Verstoßenen und ihre Verbündeten beizustehen. Anders als die Elbenkriege der Legenden war dieser Kampf sehr schnell entschieden. Volcan geriet nach ersten Schlachten im Dunklen Wald in Gefangenschaft und tötete sich in einer Geste der Unterwerfung selbst, womit er seiner Sippe spätere Racheakte ersparte. Danach war der Widerstand von Caromans und Arybors Gegnern schnell gebrochen. Doch ehe die Sieger wirklich alle Verstoßenen umbringen konnten, kam es zur Schlichtung am Kreis der Mysterien, einem Ort mächtiger Geister im Herzen des Dunklen Waldes. Mehrere namhafte Kundige unter der Führung von Phadrhack Natan anh Ria handelten freies Geleit für alle Elben aus, die sich in Galadhons Reich flüchten wollten und versprachen, die Übrigen in den Lehren der Sieben zu unterweisen sowie die Einhaltung des Gesetzes der Verstoßenen zu achten und zu überwachen.
Caroman gelang es, seine Herrschaft über die Arbonier wieder zu festigen und einigte sich mit Arybor auch auf eine Aufteilung ihrer Einflussgebiete: Während beide Stämme gemeinsam die Hegemonie über die Bewohner des Dunklen Waldes ausüben würden, mussten die Sippen des Kleinen Volkes sich entscheiden, ob sie sich dem arbonischen oder dem flutländischen Stammesoberhaupt unterwerfen wollten. Darüber hinaus beschlossen sie, dass das Fest der Freundschaft von nun an jedes Jahr gefeiert werden sollte und Streitigkeiten zwischen den Stämmen entsprechend der von Canuphyra und Phejana verkündeten Regeln im „Tribunal“ unter dem Vorsitz des Dans unblutig geschlichtet werden sollten.
Doch Caroman sollte die Früchte seines Sieges nicht mehr selber ernten. Ein paar überlebende Verstoßene sannen auf Rache und töteten ihn, Canuphyra und Phejana bei einem nächtlichen Gelage. Die Verträge zwischen Flutländern und Arboniern aber wurden nicht gebrochen und ab dem nächsten Jahr feierte man jedes Jahr das Fest der Freundschaft. Zuvor war eine Jahreszählung anhand der Herrscherjahre des jeweiligen Stammesoberhauptes üblich gewesen. Als der Frieden zwischen Arboniern und Flutländern hielt, setzte sich eine neue Zeitrechnung durch. Heute zählt man die Jahre von Caromans Tod an fortlaufend: Das Jahr nach seinem Tod nennt man das erste, das gegenwärtige Jahr (2018) das „43. Jahr nach dem Martyrium des Heiligen Caroman“. Obwohl man die Tat von Caromans Mördern als verdammungswürdig einstuft, sieht man in ihrem Gelingen den Vollzug des Schicksals, welches zwar den göttlichen Werkzeugen selbst zum Verhängnis wurde, aber den letzten großen Stammeskrieg beendete und den Weg für ein neues Reich der Tugend und des Rechts ebnete.