Doch die Mehrheit nimmt es anders wahr: Auf lange Sicht sind Bevölkerung und allgemeiner Wohlstand deutlich gewachsen, wenngleich in regional sehr unterschiedlichem Tempo (so merkt man in Flutland nur wenig davon). Zwar hat Trigardon in dem knappen Vierteljahrhundert seines Bestehens insgesamt nicht mehr als sechs ganze Friedensjahre gehabt. Diese Rechnung geht aber nur dann auf, wenn man alle Feldzüge in die Fremde, alle nennenswerten Aufstände sowie die Eroberung und Verteidigung sämtlicher Regionen zusammennimmt. Die meisten seiner Bewohner verbinden das Reich mit der Zunahme von Frieden und Sicherheit.
In den Anfangsjahren sah das allerdings noch nicht so aus. Arybor verweigerte sich entgegen vorheriger Absprachen der Wahl Ardors und forderte die Vorherrschaft über das neue Reich gewaltsam ein. Rycasch und Flynt besiegten ihn in offener Feldschlacht, so dass die Flutländer sich dem Hochfürsten nun unterwarfen.
Dieser war aber derweil auf der Rückreise von Verhandlungen mit den Altbergern einem Attentat flutländischer Außenseiter zum Opfer gefallen (nachträglich entstand das Gerücht, dass sie im Auftrag der Riasinaten gehandelt hatten), also brauchte man nach weniger als einem Jahr schon einen neuen Hochfürsten. Da Ardors Ermordung Rycasch augenscheinlich in die ehrenrettende Selbsttötung trieb (da er die Gründe dafür mit in den Tod nahm, wollten Manche ihn später als Opfer riasinatischer oder elbischer Flüche sehen), brauchten die Arbonier auch ein neues Stammesoberhaupt. Ardors Sohn Gymor Ardor anh Rhack, der sich nun Ardor II. nannte, folgte Rycasch auf diese Position.
In Ermangelung eines Kriegsherrn, auf den sich alle der Großen einigen wollten, wählte man Wastan zum neuen Hochfürsten. Obwohl man diesen Priesterfürsten ohne Hausmacht weniger als ein Jahr später wieder absetzte, gelang es ihm während seiner kurzen Herrschaft, das Fundament der heutigen Rechtsordnung zu legen. Die Einführung des Grafentitels und die ungefähren Grenzen der Grafschaften des Kernlandes gehen auf ihn zurück. Ardor II. wurde Graf von Arbon und Arybor wurde Graf von Flutland. Doch Wastan teilte die Grafenmacht weiter auf: Philonius wurde Graf von Dunkelwald und Ove, der Heerführer der Altberger, wurde als Graf von Altberg Vasall des trigardonischen Hochfürsten. Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Kleinen Volk und die vielversprechende Aussicht darauf, des neuen Reiches Tor zum Thalan zu werden, bewogen die altbergischen Edlen zu diesem Schritt.
Obwohl Wastan ein Führer mit Weitsicht und ein überzeugender Redner war, hatten viele der Stammes- und Sippenoberhäupter ihn schon bei seiner Wahl nur als Übergangsregenten angesehen. Es fehlte ihm eine entscheidende Fähigkeit: Als Priester durfte er das Heer nicht selbst anführen.
Diesen Mangel konnte der Hochfürst nicht lange mit politischen Erfolgen überspielen. Erste diplomatische Kontakte mit Gesandten aus dem Süden zeigten ein angespanntes Verhältnis an. Den Beratern des Königs von Anrea war nicht entgangen, dass die Trigardonen mit ihrem „Neuen Gar“ ein Reich ausgerufen hatten, das seiner eigenen Logik zufolge auch Vorherrschaft über den Süden anstreben musste. Wastan erschien so gar nicht wie der starke Mann, der sich im Waffengang gegen die Anreaner würde durchsetzen können.
Auch die übrige Nachbarschaft wirkte nicht so ruhig, als dass man ihr unter einem frommen Friedensfürsten begegnen wollte. Am Thalan hatte sich während des zweiten Jahrzehnts aufgrund einiger dynastischer Zufälle und Kriegsereignisse ein riesiges Reich unter der Führung des Stammes der Burgunden gebildet, das nun auch Flutland im Norden und Osten umschloss. Seine Expansion sollte bald Gegnerschaft hervorrufen: Es streckte die Hand nach einem östlich von Altberg gelegenen Gebiet aus, auf welches auch ein Bündnis einiger mit den Montrowen befreundeter Inselvölker Anspruch erhob.
Im Jahr 20 durchlief der (in der Sippe Rhack) älteste Enkel des Heiligen Caroman seine Initiation auf den Schulen des Ischan. Reryc Gysmund Caroman anh Rhack schien alles zu haben, was die Trigardonen sich von einem Anführer in drohenden Kriegszeiten wünschen konnten: Er war jung, tapfer, selbstbewusst sowie gesegnet mit scharfem Verstand und ebenso scharfer Zunge. Sein eigenes Sippenoberhaupt, Ardor II., ordnete sich seinem jüngeren Vetter unter, als ob dieser der wiedergeborene Heilige Caroman selbst sei. Die Arbonier lagen ihm zu Füßen und Flutländer, Altberger und das Kleine Volk respektierten ihn. Seine Wahl und Inthronisierung erfüllte das Hochfürstenamt wieder mit dem dynastischen Prestige einer Ahnenreihe, die bis zu Phadras Königshaus zurückgeht. Fortan nannte er sich Caroman II.
Gegenüber Winningen etablierte er eine Politik, die bis heute verfolgt wird: Weil diese Grafschaft auch einst zu Altgar gehört hatte, inszenieren sich die Trigardonen als wohlmeinender großer Bruder des südwestlichen Nachbarn.
In Anrea zeigte man sich jedoch von der trigardonischen Traditionspflege unbeeindruckt; der Ton zwischen den Gesandten verschärfte sich weiter.
Indes schienen die Götter ihr Volk noch lange nicht für fromm genug zu halten, um die Welt mit trigardonischer Vorherrschaft zu beglücken. Am Thalan kam es zum erwarteten Krieg, der in Trigardon eine unvorhergesehene Serie von Aufständen auslösen sollte.
Die Montrowen überzeugten den Hochfürsten vom Bund mit den Inselvölkern, aber die Altberger wagten nicht den Kampf gegen die Burgunden und versperrten dem trigardonischen Heer den Durchmarsch. Im folgenden Aufstand vermochte Ove Caroman II. eine peinliche Niederlage beizubringen und seine Grafschaft für kurze Zeit wieder unabhängig zu machen.
Arybor empfand diese „Schmach von Altberg“ als Grund, sich am Sturz des Hochfürsten zu versuchen. Er fuhr jedoch nur eine vernichtende Niederlage ein, die auch ihm selbst das Leben kostete.
Inzwischen hatte sich Philonius, der während des altbergischen Aufstands vom Tribunal des Hochverrats schuldig gesprochen worden war, nach Anrea geflüchtet. Seinen neuen Gastgebern und Oves Gefolgsleuten versprach er nun den Sturz des Hochfürsten, warb ein schlagkräftiges Söldnerheer an und verbündete sich mit dem neuen flutländischen Stammesoberhaupt, Arybors Halbbruder Drebycc. Es ist gut möglich, dass Caroman II. auch diesen Aufstand erfolgreich niedergeschlagen hätte. Aber aufgrund des Verrats von Jurec anh Rhack, einem seiner eigenen Vettern, fiel er Ende des Jahres 23 noch auf dem Schlachtfeld einem Mord zum Opfer.
In dieser Situation gab es keine politischen Sieger. Drebycc war in der Schlacht so schwer verwundet worden, dass man schon seinen baldigen Tod erwartete. Die Flutländer hatten einen so hohen Blutzoll entrichten müssen, dass nicht im Entferntesten daran zu denken war, ihr Heer zur Stütze einer neuen Ordnung zu machen. Auch die Söldner des Grafen von Dunkelwald verblieben nicht lange im Land. Doch der Hochfürst war tot und hinterließ einen zutiefst demoralisierten Stamm.
Im Nachhinein stellten sich viele Arbonier die Frage, warum Ardor II. den Kampf nicht fortgesetzt hatte. Die Gefolgschaft des Kleinen Volkes wäre ihm sicher gewesen. Während der beiden letzten Aufstände hatte Drebycc befohlen, sie aus Flutland zu vertreiben, weil sie sich auf die Seite des Hochfürsten gestellt hatten. Flynt, der die Flüchtlinge aufnahm, stellte sich daraufhin unter den Schutz der Arbonier und wurde Vasall ihres Grafen.
Auf der anderen Seite hätte Ardor II. den Verräter aus der eigenen Sippe bestrafen müssen, um seine Rachepflicht für Caroman II. zu erfüllen. Dieser lag ihm aber nicht nur sehr am Herzen, sondern hatte auch bedeutende Freunde in der Geistlichkeit. Darüber hinaus hätte eine Ausweitung des Bürgerkrieges in den Dunklen Wald und nach Flutland eine enorme militärische Anstrengung mit unsicherem Ausgang bedeutet.
Möglicherweise gaben aber auch die Anreaner den Ausschlag dafür, dass die Grafen von Arbon und Dunkelwald sich auf eine Schlichtung einließen. Die Berater König Rasims von Anrea nutzten die trigardonische Schwäche während der beiden flutländischen Aufstände, um ein Gebiet am Unterlauf des Arbo zu besetzen, in dem einst die Hauptstadt des alten Reiches, Gar, gelegen hatte. Mit Wastan hatten sie sich aber drei Jahre zuvor noch darauf geeinigt, dass weder Trigardon, noch Anrea Ansprüche auf diese von ihnen „Terra Incognita“ genannte Region erheben würden. Um diesem aggressiven Vertragsbruch begegnen zu können, brauchte Ardor II. inneren Frieden.
Die Bürgerkriegsparteien einigten sich auf Phosphoros als Schlichter, den Hofkundigen Caromans II., der darüber hinaus auch Statthalter von Nordern und Vorsteher von Riasions Hochtempel war. Anstatt im Reichsthing einen neuen Hochfürsten zu wählen, verständigten beide Seiten sich darauf, Philonius wieder als Graf in die Reichsgeschäfte zu integrieren, Ardor II. zum obersten Heerführer des Reiches und Phosphoros zum Übergangsregenten, zum „Erzkanzler“, zu bestimmen. Die Flutländer und das Kleine Volk mussten in dieser Schlichtung nicht berücksichtigt werden. Da Drebycc wider Erwarten nicht verstarb, sondern noch viele Jahre vor sich hinsiechen sollte, brauchten die Flutländer recht lang, um seine Nachfolge zu regeln.
Obwohl Phosphoros seine Entscheidungen regelmäßig vom Reichsthing absegnen ließ, dessen Zusammensetzung er allerdings immer wieder zu seinen Gunsten abänderte, haftete seiner Regentschaft stets der Geruch des Illegitimen an. Seine öffentlichen Auftritte in Flutland und Arbon waren nicht häufig. Stattdessen regierte er vor allem von Nordern aus, dessen beeindruckende Festungsanlagen bis zum Jahr 28 fertig gestellt wurden.
Doch gerade deshalb, weil die Kanzlerherrschaft schon angesichts des ersten gegen sie gerichteten Aufstands wie ein Kartenhaus zusammenstürzte, ist ihre vergleichsweise lange Dauer von achteinhalb Jahren bemerkenswert. Selbst Phosphoros Gegner halten ihm Zugute, dass er das Reich aus der Untergangsstimmung zu Beginn seiner Regentschaft herausführte. Weniger Liebe bringt man ihm heute dafür entgegen, dass er die Lösung vieler Probleme geschickt auf unbe-stimmte Zeit verschob.
An der veränderten Südgrenze ließ sich nach Caromans II. Tod nichts mehr ändern, doch mit versilberten Entscheidungshilfen gelang es, die altbergischen Edlen davon zu überzeugen, ihren Grafen des Landes zu verweisen und sich Trigardon wieder anzuschließen.
Auch die Beziehungen zu verschiedenen kleinen und großen Reichen am Thalan wurden zur Zeit der Kanzlerherrschaft geknüpft, verbessert oder normalisiert. Besonders die „Bruderbünde“ mit mehreren Inselvölkern und mit König Hagen von Taëria erweiterten das Weltwissen der trigardonischen Oberschicht enorm. Jenseits der Nachbarländer gelangen mit Hilfe der Verbündeten einige mehr oder weniger zufällige Eroberungen, darunter der Glücksgriff der Ostprovinz, die eigenwillige Inbesitznahme des Westports, der den Flutländern noch heute Probleme macht, und die aus der Not heraus geschehene Besetzung des Ringlandes, die dem im Lande Harnac geschlagenen trigardonischen Heer sichere Winterlager für den Rückzug verschaffte. Auch Yddland wurde während der Kanzlerherrschaft Teil Trigardons; weitestgehend sich selber überlassen spaltete es sich jedoch bei der ersten Gelegenheit wieder ab.
Für die meisten Menschen ist der Beginn von Phosphoros Regentschaft jedoch mit der bestürzenden Erfahrung verknüpft, dass das Grauen der Lebenden Toten nicht nur in Legenden begegnet.
Während der Herbsternte des Jahres 24 tauchte, zunächst unbemerkt, ein neuer Feind im Grenzgebiet von Arbon und Altberg auf, mit dem man es seit Botans Tagen nicht mehr zu tun gehabt hatte. In dieser Gegend war damals die altbergische Erdbestattung weiter verbreitet, als die Feuerbestattung der Stämme Ischans und Natans. Aus den Gräbern erhoben sich die Toten, fielen über die Lebenden her und erweckten auch ihre Leiber, um sie in ihr Heer einzureihen. Angeführt wurden sie von einer bleichen Heerführerin, deren Namen, Herkunft und Absicht man nie erfuhr. In einer ersten Schlacht vor der Jahreswende blieb das Heer der Lebenden Toten siegreich und bedrohte sogar Caernadun, die Festung der Montrowen. Sie zogen sich aber im Schneetreiben zurück und töteten am Oberlauf des Derian und im umliegenden Hügelland jeden, dem nicht rechtzeitig die Flucht gelang. Noch immer gibt es dort einsame Ortschaften, in denen die „Montrowische Plage“ so furchtbar gewütet hat, dass kein Mensch dort wieder siedeln will. Im nächsten Frühjahr gelang es Ardor II. zwar, den Feind einzukreisen und zu vernichten. Doch das überstandene Übel hinterließ in den Seelen der Überlebenden so tiefe Narben, dass man keine Heldenlieder darüber gedichtet hat.
Es wurde nie geklärt, wie es zur Montrowischen Plage gekommen war, die in Altberg zwar weniger heftig, aber nichtsdestotrotz tödlich gewütet hatte. Man gibt unbekannten anreanischen Kundigen die Schuld dafür, deren berühmte Zauberschule angeblich die mächtigsten Magier der Welt hervorbringt.
Doch die Trigardonen hatten sich dem Schrecken nicht allein stellen müssen. Namhafte Barbaren waren mit tapferen Streitern zur Hilfe gekommen, denen das Reich nun zu tiefem Dank verpflichtet war. Darunter waren das Sippenoberhaupt der Sippe Oni, Munin, sowie ihr Gatte Ian, die von den gleichen Inseln wie die Montrowen stammten. Ardor II. gab ihnen die Baronie Montrowia als Lehen, weil der Stamm der Montrowen durch die Plage seinen gesamten Adel verloren hatte.
Zu den neuen Freunden gehörten auch der Trohnfolger des Inselfürstentums Vada, Allastian Bona, und dessen Gattin Amsira. Sie wurden vom Erzkanzler zu Graf und Gräfin Altbergs ernannt. Weil sie dort eine sehr wohlwollende, indirekte Herrschaft ausübten, akzeptierten auch die Altberger das fremde Grafenpaar.
Die zur Hilfe gekommenen Taërianer dagegen erbaten trigardonische Waffenhilfe für ihren eigenen bevorstehenden Kampf gegen die Lebenden Toten in ihrem Nachbarland Harnac.
Im Jahr darauf zog Ardor II. mit großem Kriegsgefolge dorthin. Das trigardonisch-taërianische Bündnisheer wurde jedoch vernichtend geschlagen, wobei Ardor II., Allastian und unzählige Weitere zu Tode kamen. König Hagen war nunmehr gezwungen, sein Reich durch miteinander verbundene Festungen, den „Harnacwall“, gegen die Mächte der Verderbnis zu sichern.
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Die Hoffnung auf eine baldige Ablösung der ungeliebten Kanzlerherrschaft musste der arbonische Adel mit dem Ende Ardors II. begraben. Man klärte seine Nachfolge mit einer Langsamkeit, die dem Nachfolger und der Sippe Rhack noch Jahre später enorme politische Kosten entstehen ließen.
Das lag nicht nur daran, dass Ardor II., wie auch schon sein Vetter Caroman II., in jugendlichem Wahn schlicht keine Nachfolgeregelung getroffen hatte, ledig geblieben war und die Mütter seiner Kinder anderen Sippen angehörten.
Es lag auch daran, dass nicht gleich ersichtlich wurde, dass man überhaupt etwas zu klären hatte. Denn die Getreuen des Erzkanzlers versuchten, den Tod des Grafen von Arbon geheim zu halten. Es hieß, die Kundigen hätten den Schwerstverwundeten, von Schadzaubern befallenen Heerführer ins Kloster der Riasina gebracht, um sein Leben zu retten.
Als nach dem Winter mehr und mehr Zeugen des Harnac-Desasters heimkehrten, verlegten sie sich auf eine andere Geschichte: Ardor II. war im verfluchten Land der Lebenden Toten gefallen, vor seiner Bestattung sei also die Reinigung seines Leibes von verderbten Dämonen und Flüchen nötig. Diese – angesichts der jüngsten fürchterlichen Erfahrungen durchaus glaubhafte – Variante verzögerte jedoch eine geregelte Nachfolge weiter. Denn Bestattungsriten dienen seit je her auch der rituellen Übergabe von Herrschaftsrechten.
Der Schaden war bald angerichtet: In Monaten der Unsicherheit zerstritten sich die verschiedenen Familienoberhäupter der Sippe Rhack um das weitere Vorgehen und um das Erbe. Dieser ungünstige Ereignisverlauf wurde begleitet von ungeklärten Morden und Mordversuchen an wichtigen arbonischen Adligen und politisch einflussreichen Geistlichen, die stets vielfache Gelegenheiten hinterließen, sich in Schuldzuweisungen, Rachefehden und Erbstreitigkeiten zu verwickeln. Ähnliches war auch schon rund um den Sturz Caromans II. geschehen.
Heute wähnt man hinter den meisten dieser Verbrechen riasinatische Hintermänner, die damit mögliche Opposition gegen die Kanzlerherrschaft schon vor ihrer Formierung spalten wollten. Aber die Erkenntnis, dass der Graf von Dunkelwald nicht nur das Territorium der alten Elbenreiche, sondern auch ihre Strategie der Spaltung und Schwächung der Flutländer und Arbonier übernommen hatte, setzte sich nur langsam durch. Erst im Nachhinein erscheint es offensicht-lich, dass die Riasinaten nur mit solchen Methoden eine einflussreiche Kraft in Trigardon bleiben konnten.
Die Einheit der Arbonier und ihrer führenden Sippe hatte aber schon zu Beginn der Kanzlerherrschaft Risse bekommen. Dass Ardor II. sich überhaupt auf eine Schlichtung mit Philonius einließ, anstatt seine Rachepflichten zu erfüllen, hatten viele Getreue des letzten Hochfürsten nur zähneknirschend akzeptiert. Dass er aber noch nicht mal den Verräter Jurec verstieß, galt eigentlich als unvereinbar mit der Ehre des Hauses und den arbonischen Sitten schlechthin. Warum verzichtete der Graf von Arbon darauf?
Die Antwort auf diese Frage verweist auf die Rivalität zwischen Geistlichen und Sippenoberhäuptern, die in Folge des religiösen Wandels aufgetreten war. Eine Generation zuvor konnten sich die Oberhäupter der Adelshäuser im Zentrum ihrer jeweiligen Ahnenkulte noch als wichtigste spirituelle Autoritäten fühlen. Die größere Betonung der Hauptgötter und die Verbreitung der Heiligen Schrift hatten das geändert. In den Zwanzigerjahren war es selbstverständlich geworden, dass Geistliche unabhängig von ihrer Sippenzugehörigkeit in erster Linie den Göttern zu dienen hatten und sich damit in vielen Bereichen des Lebens der Autorität ihrer Sippenoberhäupter entziehen konnten. So lange sich die Macht der Priesterschaft vorwiegend auf moralisch-religiöse und intellektuelle Bereiche erstreckte, führte die Veränderung nur zu einzelnen persönlichen Konflikten innerhalb der Sippenverbände, die sich meist mit Augenmaß und Kreativität lösen ließen.
Doch angesichts der Unruhen unter Caroman II. begann der Klerus damit, sich zu bewaffnen. Das Heilige Konzil der Siebenfaltigkeit stattete den Orden des Heiligen Caroman aus, woraufhin die Riasinaten sich dazu gedrängt sahen, die Schattengarde aufzustellen. Zuvor hatten nur einzelne prominente Kriegergestalten wie der Heilige Caroman und Arybor Cirkaterstatus zugewiesen bekommen. Spätestens mit dem Zulauf, den die bewaffneten Orden nach der Montrowischen Plage bekamen, wurde daraus ein eigener, gut organisierter und schwer bewaffneter Stand, der auch auf jene Ritter und Reiter große Anziehungskraft ausübte, die sich in rebellischen Lebensphasen der Bevormundung ihrer Familien entziehen wollten.
Jurec anh Rhack schien die besonders extreme Ausprägung eines solchen Falls zu sein, als er die Ermordung des Hochfürsten durch seinen flutländischen Ordensbruder Trogan zuließ oder (je nach Lesart) sogar arrangierte. Aber er war Ordensmeister des Ordens des Heiligen Caroman und wurde vom Hohepriester Riasons, Adrian, für von weltlichen Richtern unantastbar erklärt. Ardor II. hatte also nur die Wahl, im Herzen seiner eigenen Grafschaft den Ansehensverlust zu riskieren, den der Waffengang mit der Cirkaterschaft bedeutet hätte oder Jurecs Verrat vorerst folgenlos zu lassen.
Angesichts dieses Dilemmas gründete er seinen eigenen Cirkaterorden, die Bruderschaft des Heiligen Danason, die sich zwar als Gegenmacht zum Dunkelwald verstand, aber (keineswegs unabsichtlich) dem Orden des Heiligen Caroman in Sachen Ausstattung, Größe und Popularität schnell den Rang ablief. Die Führung durch den Grafen machte die Danason-Brüder auch für jene Edlen attraktiv, die der Selbstbewaffnung des Klerus misstrauisch gegenüber standen.
Auf dem Harnac-Feldzug kam dann nicht nur Ardor II., sondern auch Jurec ums Leben, was den schwelenden Konflikt zwischen Adel und Klerus entschärfte. Ihn fast gänzlich aufzulösen war das Verdienst der beiden neuen Anführer der Cirkaterorden, Estron, dem Meister der Caroman-Brüder und Emendon, dem Meister der Danason-Brüder. Auch Adrian spielte dabei eine Rolle, wurde aber in einem ersten Schritt vor vollendete Tatsachen gestellt:
Nach der Niederlage in Harnac ordnete Estron die Auflösung seines eigenen Ordens an, legte das Gelübde der Bruderschaft des Heiligen Danason ab und forderte seine Brüder und Schwestern auf, es ihm gleich zu tun, was die überwiegende Mehrheit der Arbonier unter ihnen auch tat.
Derart gestärkt sicherte Emendon Adrian zu, in den religiösen Auseinandersetzungen mit den Riasinaten stets die Positionen des Heiligen Konzils zu unterstützen, verlangte dafür aber die Hilfe des Klerus bei der Disziplinierung des uneinigen arbonischen Adels.
Erst durch dieses Bündnis wurde die „wahre“ siebenfaltige Lehre des Heiligen Konzils endgültig zum unbestrittenen Maßstab von Recht und Sitte in Arbon. Im weiteren Verlauf der Zwanziger- und Dreißigerjahre verfestigte sich auf dieser Basis eine Rollenverteilung, in der dem Adel zwar das letzte Wort bei den großen Entscheidungen zukommt, die Geistlichkeit sich aber nicht um den Respekt vor ihrer moralischen Autorität oder den Schutz ihrer Einrichtungen und Privilegien zu Sorgen braucht. Weil die drei größten arbonischen Glaubenszentren (der Hochtempel des Riamodan und die Klöster des Riason und des Heiligen Danason) zum Herzstück der gräflichen Verwaltung wurden, kann diese Entwicklung als unumkehrbar gelten.
Die erfolgreiche Vereinigung geistlicher Reformkräfte mit dem Traditionalismus der edlen Sippenoberhäupter sorgte für die nötige Geschlossenheit, dank der die Arbonier unter Emendons Führung langsam wieder den politischen Vorrang erlangten, der dem größten und reichsten Stamm mit dem stärksten Heer der trigardonischen Lande zukommt. Doch bis dahin mussten noch viele Krisen gemeistert werden, in denen die Arbonier vielfach Gefahr liefen, an sich selbst zu scheitern.
Emendon war als Oberhaupt der mächtigsten Sippe des Tejadun, den Erlenfelsern, kein Unbekannter in der trigardonischen Politik. Doch fehlte seinem Haus die Ahnenreihe, die es mit den alten Königen von Gar verband.
Ihm kam jedoch zugute, dass seine Großmutter eine Gefährtin des Heiligen Caroman gewesen war und ihre Sippe schon damals zu den engsten Verbündeten der anh Rhack gehörte. Der Sohn, den sie von Caroman bekam, war Emendons Vater.
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Diese Abstammung wird im Rückblick als ebenbürtig zur Abstammung der Sippenoberhäupter der anh Rhack, anh Argaine und anh Garesch angesehen.
Reichsweite Bekanntheit erlangte Emendon für seine beispielhafte ritterliche Treue gegenüber Ardor II., dem er während des altbergischen Aufstandes freiwillig in die Kriegsgefangenschaft folgte.
Zwei Jahre später wurde er kurzzeitig zum Gefäß für den Geist des Heiligen Danason, der die Übersetzung seiner Lebensgeschichte aus der Vergessenen Sprache verlangte. Dieses Wunder inspirierte den Grafen von Arbon zur Gründung der Bruderschaft des Heiligen Danason.
Im Jahr 27, als der Tod Ardors II. öffentlich wurde, fiel es dann mit einer gewissen Selbstverständlichkeit dem neuen Ordensmeister der Danason-Brüder zu, den Streit zwischen den verschiedenen Zweigen der Sippe Rhack zu schlichten. Da keines der relevanten Familienoberhäupter sich der Autorität eines der anderen beugen wollte, wurde die Sippe in drei Verbände mit jeweils eigenem Sippenoberhaupt aufgeteilt. De facto war damit der Anspruch der anh Rhack, das arbonische Stammesoberhaupt zu stellen, erloschen. Beim folgenden arbonischen Stammesthing wurde Emendon zum neuen Grafen gewählt.
Doch der Erzkanzler war nicht geneigt, das Ergebnis dieser Wahl sofort anzuerkennen. Wastans Reformen hatten die Stammesoberhäupter zu Vasallen des Hochfürsten gemacht und Phosphoros verlangte als dessen rechtlicher Vertreter Emendons Treueeid und Unterwerfung, was jener unter Verweis auf die Stellvertreternatur des Erzkanzlers verweigerte. Der Erzkanzler verweigerte seinerseits Emendons Anerkennung als Graf von Arbon und erklärte, es sei nur ein „Vogt von Arbon“ gewählt worden.
Emendon entschied sich dagegen, sein Wahlrecht gewaltsam geltend zu machen. Zu wenig gefestigt erschien ihm zu diesem Zeitpunkt seine Macht in Arbon, schließlich hatten die Erlenfelser nie zuvor das Stammesoberhaupt gestellt. Nachfolgeprobleme in verschiedenen namhaften Häusern, Philonius heimliche Unterstützung arbonischer Außenseiter sowie der unklare Verbleib von Ardors II. Leichnam (mit dessen Bestattung und Totenrede sich potentielle Opposition im Stamm hätte legitimieren können); all das waren Gründe, die Treue der Arbonier nicht sofort in einem Waffengang gegen den Erzkanzler zu testen. Dreieinhalb Jahre später musste dieser dem konstanten rhetorischen Druck der arbonischen Geistlichkeit nachgeben und Emendon schließlich doch als neuen Grafen von Arbon bestätigen.
Von Anfang an sah sich Emendon einer Gegnerschaft gegenüber, die sich nicht offen zeigte und schwer zu fassen war. Mordversuche an ihm, Skandale, Verschwörungen und heimliche Machenschaften finsterer Götterlästerer beschäftigten die Öffentlichkeit noch über die Zeit der Kanzlerherrschaft hinaus.
Eine geheime Bruderschaft von Unbekannten, die Botan als Gottheit verehrten, zeigte sich offen am Fest der Freundschaft des Jahres 27. Sie nannten sich die „Schwarzen Cirkater“, brachten ein Gefolge aus Orks ins Land und versuchten sich bei mehreren Gelegenheiten am Raub von Reliquien. Auch wenn ihre erste Vorhut den Angriff auf das Fest vollständig mit dem Leben bezahlte, säten andere Gruppen in den Jahren danach Angst und Schrecken im Land, indem sie in abgelegenen Gegenden blutige Massaker begingen und die Toten schändeten. Sie schienen verdeckte Unterstützung von einflussreichen Persönlichkeiten zu haben, da es ihnen gelang, ihren Verfolgern immer wieder zu entwischen. Selbstverständlich stritt Philonius jegliche Verbindung zwischen den Unbekannten und den Riasinaten ab. Es wurde nie ganz ersichtlich, was die finsteren Gestalten mit ihren Überfällen eigentlich bezweckten. Zielsicher taten sie stets genau das, was den Trigardonen als Abscheulichstes gilt.
Daher entstand eine Theorie, die in informierten Kreisen zwar als wiederlegt gilt, sich aber als Gerücht bis heute hält: Es könnte sich um eine Gruppe Verrückter handeln, die von kundigen Amtleuten des Erzkanzlers, den nach der Montrowischen Plage ins Leben gerufenen „Kommissaren der Zauberkunst“ (auch „Arkane Kommissare“ genannt) zum Zweck der Selbstlegitimation fremdgesteuert würden.
Diesen Amtleuten oblag es damals, Missbrauch von Zauberkräften, Schwarze Künste und Umtriebe der Verderbnis zu verfolgen. Sie verlangten absolute Unabhängigkeit selbst gegenüber dem Erzkanzler und schreckten auch vor extralegalen Tötungen nicht zurück. Nach dem gescheiterten Harnac-Feldzug hatten sie auch den Leichnam Ardors II. in ihre Obhut genommen. Erst an den Toren der Tempel und Klöster endete – erzwungenermaßen – ihre Handlungsbefugnis. Obwohl sie formal gesehen nichts mit den Riasinaten zu tun hatten, entstammte doch die große Mehrheit von ihnen den Reihen dieses Ordens. In den Augen vieler Arbonier und Flutländer hatte Phosphoros damit den Bock zum Gärtner gemacht. Heute gilt es als sicher, dass sowohl die Riasinaten, als auch die Kommissare der Zauberkunst von Botans Knechten unterwandert gewesen sind. Kaum hatte man versprochen, Ardor II. endlich zur Bestattung freizugeben, musste Phosphoros auch schon zugeben, dass die Schwarzen Cirkater den Leichnam von seinem geheimen Aufbewahrungsort geraubt hatten.
In Folge dieses Versagens nahm man die kundigen Amtleute immer weniger ernst, was den Niedergang ihrer Institution in Gang setzte. Sie schienen das Gegenteil dessen zu bewirken, wofür sie ernannt worden waren: Statt finstere Machenschaften aufzuklären, trugen sie zu einer Stimmung des Misstrauens bei. Statt das Ansehen der Kundigen zu stärken, trieben sie die traditionellen Hexen, Hexer und Schamanen reihenweise ins Exil und anstatt die Kanzlerherrschaft zu stützen, ignorierten sie öfter als gelegentlich Phosphoros Autorität. Kein Reformversuch fruchtete. Als das Kommissariat fünf Jahre später aufgelöst wurde, war es längst nur noch ein Schatten seiner selbst.
In Flutland und Arbon verbreitete sich in diesem Klima die Einschätzung, dass man in Zeiten des Sittenverfalls leben müsse, in denen die Ideale der Reichsgründung ins Absurde verkehrt wurden und man im Begriff war, Trigardon in ein moralisches Ödland zu verwandeln. Stimmen wurden lauter, die das Reich mit zwei zusammengewachsenen Kälbern verglichen, nur verbunden durch das dunkelwäldische Geschwür. Ende der Zwanziger- und im Verlauf der Dreißigerjahre wurden die Stämme insgesamt deutlich konservativer. Die Geistlichen und Sippenoberhäupter gaben zwar den Reichsgedanken nicht gänzlich auf, doch betonten Flutländer und Arbonier ihre eigenen politischen Traditionen und nahmen sich mehr und mehr Unabhängigkeit gegenüber der Regentschaft des Erzkanzlers heraus.
Flutlands alter Heerführer Drebick siechte zwar noch immer vor sich hin, doch hatte er seinen Schildträger Trogan als Nachfolger designiert. Arybors Tochter Marsiane behauptete ihren Anspruch als Gräfin Flutlands und Ystjarson Crul und adoptierte den neuen Heerführer. Auf diese Weise beendete der Stamm des Ischan seinen schwierigen Führungswechsel im Jahr 29. Die lange Übergangsphase hatte dort die Vorstellung von einer zwar einvernehmlichen, doch jeweils sehr eigenständigen Herrschaft der 14 Sippenoberhäupter gestärkt. Nun verlieh die flutländische Geistlichkeit der Ystjarson Crul nur zu gerne das zusätzliche Prestige, dass ihr Vorrang unter den Sippenoberhäuptern göttlich gewollt und seit jeher dagewesen sei.
Emendon seinerseits verlor nach seiner Bestätigung als Graf keine Zeit, mit seiner eigenen schriftlichen Fassung arbonischen Rechts aufzuwarten. Sein Ständeedikt basierte zwar im Wesentlichen auf dem von Caroman II., erklärte nun aber wie selbstverständlich vormals hochfürst-liche Rechte zu denen des Grafen von Arbon. Schon im Prolog machte er deutlich, dass er, weil es keinen Hochfürsten gab, sich als einziger legitimer Rechtsnachfolger der Könige von Altgar ansieht und seine Stellung nicht etwa vom Erzkanzler verliehen, sondern von den Göttern gegeben sei. Arbons Adel und Klerus erhoben keinerlei Einwände.
In den letzten beiden Jahren der Kanzlerherrschaft,
als Emendon und Marsiane sich als Anführer ihrer Stämme etabliert hatten, hatten sie auch ein jeweils spezifisch flutländisches und arbonisches Herrschaftsverständnis verwurzelt. Mit diesen Ideologien ausgestattet konnten beide dauerhaft keinen anderen Herrscher über sich dulden, wenngleich sie die gemeinsamen Reichsinstitutionen durchaus erhalten wollten.
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Vermutlich hatte nicht zuletzt die Aussicht darauf, dass sonst wohl der Erzkanzler selbst gewählt worden wäre, sie zu diesem Schritt veranlasst.
Auf dem Fest der Freundschaft 32 n. K., auf dem der Graf von Arbon und die Gräfin von Flutland heirateten, übergab der Erzkanzler formal die Herrschaft an das neue Hochfürstenpaar, legte sein Amt als Tempelvorsteher des Hochtempels des Riasion nieder und begab sich auf eine wundersame Reise in die Geisterwelt.
Das Reichsthing hatte noch weiter reichende Folgen. Emendon sah in dieser Zusammenkunft die seltene, für ihn persönlich erste Gelegenheit, Philonius öffentlich mit harschen Vorwürfen zu konfrontieren, nach denen die Riasinaten in einen großen Teil der finsteren Machenschaften verwickelt seien, die das Reich in Aufruhr versetzten. Dabei stützte er sich auf verschiedene Protokolle von Zeugenaussagen und abgefangene Briefe, welche in den Jahren zuvor von Adrians Getreuen und den Danasonbrüdern zusammengetragen worden waren. Auch wenn die meisten offenen Fragen für immer unbeantwortet bleiben sollten, gestand Philonius die Anwendung Schwarzer Künste bei seiner Verschwörung zum Sturz Caromans II.:
Rund um den bergischen Aufstand hatte er Jurek anh Rhack, Drebick anh Crul und einige einflussreiche Amtleute aus dem näheren Umfeld des Hochfürsten ermorden lassen, um sie gleich darauf zu Lebenden Toten zu erwecken und unter seinem Zauberbann zurück in ihre alten Positionen zu schicken. An den Befehl des riasinatischen Ordensmeisters gebunden hatte Drebick nach Arybors Tod den zweiten, im Ergebnis für die Flutländer völlig sinnlosen zweiten Aufstand gegen Caroman II. begonnen, in dem Jureks Verrat zum Tod des Hochfürsten geführt hatte. Diese Offenbarung erklärte auch Drebicks langes Siechtum, von dem er erst jetzt, nach dem Bekanntwerden der Wahrheit, erlöst wurde.
Obgleich der oberste Kommissar der Zauberkunst Philonius sofort selbst aburteilen und hinrichten wollte, beschlossen die hohen Ratsherren, ihn bis zu seinem Prozess vor dem Tribunal unbehelligt zu lassen, denn schließlich erfordert das Reichsthing die Unverletzlichkeit aller Anwesenden, um bestehen zu können. Doch das war sicher nicht der einzige Grund, Philonius vorerst ziehen zu lassen. Es bestand durchaus die Hoffnung, weitere, für den Kampf gegen Botans Knechte wertvolle Informationen vom Grafen von Dunkelwald zu erhalten und darüber hinaus stand der Verdacht im Raum, die Kommissare könnten diese Quelle rasch zum Versiegen bringen wollen, um eigenes Fehlverhalten zu vertuschen.
Philonius aber dachte natürlich nicht daran, sich einem Gerichtsverfahren zu stellen, sondern ging ins Exil. Zwar verurteilte das Tribunal ihn in Abwesenheit zur Vogelfreiheit. Das jedoch gab den Riasinaten Gelegenheit, die Rechtmäßigkeit des Urteils in Frage zu stellen und auf Yddland und in der Ostprovinz Verbündete für die Absetzung des neuen Hochfürstenpaars zu sammeln. Ehe daraus aber eine neue Aufstandsbewegung hätte werden können, traf den nicht mehr jungen, von zuletzt schwindender Gesundheit geplagten ehemaligen Grafen von Dunkelwald Ende des Jahres 32 der Schlag.
Auch die Kommissare der Zauberkunst überstanden den Herrschaftswechsel nur kurz. Ihr Vertreter hatte Philonius zwar im Tribunal noch mit verurteilt, trat aber danach von seinem Amt zurück und verließ Trigardon für immer. Darauf folgende Führungsstreitigkeiten und die heimliche Flucht diverser Kommissare lähmten die Reichsinstitution, bis die neuen Hochfürsten sie zwei Jahre später nach einer Reihe peinlicher magischer Unfälle auflösten.
Während es noch unklar war, ob die Hochfürsten mit Rebellionen im Dunkelwald, auf Yddland und in der Ostprovinz konfrontiert werden würden, weitete sich auch der Aufstand rund um Ephraym anh Dorec aus. Das Kleine Volk hatte nicht vergessen, dass die Flutländer viele der Ihren zehn Jahre zuvor aus ihren nördlichen Siedlungsgebieten vertrieben hatten. So werteten sie Emendons Hochzeit mit Marsiane als Treuebruch ihres Lehnsherrn und entschieden sich dafür, lieber an Ardors II. Überleben zu glauben. Aus gewohnter Treue zu Flint anh Harog schlossen sich auch einige seiner arbonischen Vasallen dem Aufstand an. Zusätzlich kehrten zwei Verwandte des alten Grafen von Arbon, Modryas und Aryane anh Rhack, aus dem Exil zurück. Nach Caromans II. Ermordung hatten sie sich mit ihrem Sippenoberhaupt überworfen, nun wollten sie für seine (und ihre eigenen) Rechte eintreten, gewannen ein paar Verwandte für sich und bildeten damit de facto eine vierte Sippe (die im Nachhinein sogenannte Ardor-Linie) der zersplitterten anh Rhack. Damit war nun eine ganze arbonische Region, das gesamte Kleine Volk, zwei von vier Sippenzweigen des alten Herrschergeschlechts sowie mehrere kleine Häuser in offener Erhebung gegen Emendon. Dabei blieb es dann allerdings.
Hochfürst und Hochfürstin verlegten sich auf eine Aufgabenteilung, in der es vor allem Marsiane zukam, Yddland, die Ostprovinz und die Bewohner des Dunklen Waldes von ihrer Unterwerfung unter den Thron zu überzeugen, während Emendon sich auf die Rebellen in Arbon konzentrierte. Er wiederstand der Versuchung, den Kampf ins Hochland zu tragen, um eine rasche Entscheidung herbeizuführen. Stattdessen holte er sich Burg Bärenfels zurück und beschränkte sich darüber hinaus darauf, seinen Gegnern den Zugriff auf das Vorgebirge (und damit die Konsolidierung ihrer Versorgungslage) zu verwehren. Er wusste, dass seine Herrschaft über Arbon nicht wirklich bedroht war, so lange er mit dem Längstal und dem Tejadun die wirtschaftlich und militärisch bedeutendsten Landschaften ganz Trigardons kontrollierte. Neben seiner eigenen Sippe und den Danasonbrüdern standen auch die Mutter Ardors II., Arda Derya anh Rhack, alle leiblichen Nachkommen des Heiligen Caroman, die anderen alten Sippen und vor allem die arbonische Priesterschaft fest an seiner Seite. Daher stand seine Legitimität nie ernsthaft in Frage. Er baute auf das Erlahmen des Kampfeswillens der Auf-ständischen, die vergeblich darauf warteten, dass Ardor II. sie aus ihrer misslichen Lage im Hochland befreien würde.
Im Jahr 34 gelang es, Flint anh Harog bei dem Versuch gefangen zu nehmen, einen mutigen, aber unklugen Vorstoß zu unternehmen. Es mag einer Mischung aus zwergischer Sturheit und der Verzweiflung der abtrünnigen anh Rhack geschuldet sein, dass die Kämpfe noch zwei weitere Jahre andauerten. Erst als sich Hochfürst und Hochfürstin miteinander überwarfen und neuer Krieg zwischen Arboniern und Flutländern drohte, willigte Flint ein, Emendon die Treue zu schwören und ihm die aufständischen Arbonier auszuliefern. Einigen wurde vergeben, andere wurden zum Tode oder zu lebenslanger Klosterhaft verurteilt, wieder Anderen gelang die Flucht. Vier Jahre später tötete Ephraym sich im Exil selbst. Das Kleine Volk war das eigentliche Rückgrat des Aufstandes gewesen. Ihnen war es nie wirklich um Ardor II. gegangen, sondern vielmehr darum, sich keiner flutländischen Hochfürstin unterwerfen zu wollen.
Doch wie war es zum Zwist zwischen Emendon und Marsiane gekommen? Die ersten vier Jahre nach dem Ende der Kanzlerherrschaft hatten ihre Taten noch einvernehmlich gewirkt und waren nicht ohne Erfolge geblieben. Unter ihrer Führung hatte das Reichsthing nicht nur die Ersetzung der Kommissare der Zauberkunst durch die Hofkundigen der Großen, sondern darüber hinaus auch eine umfassende Neuordnung der trigardonischen Reichsgesetze beschlossen. Gemeinsam hatten Emendon und Marsiane durch kluge Verhandlungen die Autorität des Throns in den überseeischen Provinzen wiederhergestellt, eine offene Erhebung des Dunklen Waldes verhindert und den Aufstand im Dugor Harog eingedämmt. Darüber hinaus war sogar Zeit geblieben, bei einem kurzen Krieg einiger Inselvölker gegen das südlich des Tinarischen Meeres gelegene finstere Reich von Torog Nai, dem legendenumrankten Feind der Völker der Mittellande, Unterstützung zu leisten.
Dennoch konnten Teilerfolge und gemeinsame Interessen nicht überbrücken, dass der Hochfürst und die Hochfürstin füreinander keine politischen Wunschpartner waren, egal wie gern manche Geistliche ihre Verbindung als symbolische Versöhnung der Weltväter werteten.