Geisterwelt
Lebenserfahrung und Überlieferung zeigen den Trigardonen, dass so gut wie alle nennenswerten Natur- und Kulturerscheinungen, seien es Bäche oder Bäume, Berge, Täler, das heimatliche Herdfeuer, Burgen, Schiffe und dergleichen mehr, von Geistern beseelt sind. Alle Erscheinungen und Effekte der sichtbaren Welt sind auf ihr Handeln zurückzuführen, auch wenn ungeschulte Sinne das nicht immer wahrnehmen müssen. Der innere Zusammenhang von Wirkung und Ursache, Schöpfungen und Schaffenden, Wahrnehmung und Erkenntnis, lässt sich oft nur durch den Blick auf das Unsichtbare erschließen; durch den Austausch mit den Wesen der Geisterwelt.
„Unsichtbare Welt“, „Geisterwelt“, der exotische „locus astrorum“ und all diese anderen Worthülsen vermitteln den Eindruck, als ob es sich dabei um einen vom Leben der Menschen weit entfernten Ort handeln würde. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Geisterwelt ist den Geschöpfen aus Fleisch und Blut buchstäblich so nah wie die Atemluft. Sie ist die Wahrnehmungsebene des Geheimnisvollen, verbindet Erde, Himmel und Unterwelt und wird von zahllosen gewogenen, zornigen oder gleichgültigen Natur-, Elementar-, Ahnen- und Schutzgeistern bevölkert. Diese Wesen sind mehr oder weniger vieldeutig als Kinder und Kindeskinder der sieben Hauptgötter identifizierbar, sodass die Kommunikation mit ihnen häufig auch deren göttliche Eltern anspricht und somit Gebeten ähneln kann.
Aus diesem Grund gibt es für Anhänger der Siebenfaltigkeit keine trennscharfe Grenze zwischen religiösen und magischen Praktiken. Obgleich sie für die Wissenden rätselhaft und für die Unkundigen unergründlich bleibt, gehen die Menschen recht selbstverständlich mit der Geisterwelt um. Denn mögen die Geister auch darauf festgelegt sein, gemäß ihrer Natur zu handeln, so haben sie dennoch Spielräume und sind innerhalb eines gewissen Rahmens von Sterblichen manipulierbar. So kann der Geist im Herdfeuer sowohl Suppe kochen, als auch das Haus niederbrennen. Es lohnt sich also nicht nur, einen Eimer Löschwasser zu haben, sondern auch den Feuergeist mit Opfergabe und Gebet zu nützlichem Verhalten zu bewegen. Und selbst ein Tischler murmelt seine Zaubersprüche, um die Baumgeister in seinen Brettern davon zu überzeugen, die Identität eines Tisches anzunehmen.
In dieser Weltsicht haben die „Kundigen“, in den Belangen der Geisterwelt besonders begabte und geschulte Personen, große spirituelle Bedeutung. Die Legenden weisen ihnen gefährliche und mühsame Aufgaben im Kampf gegen Verderbnis und pervertierte Mächte zu. Demnach müssen sie bereit sein, Feuer mit Feuer zu bekämpfen ohne dabei vom Pfad seelischer Harmonie abzukommen.
Der Kundigenbegriff ist allerdings sehr weit gefasst und war als eigener Stand bis vor wenigen Jahrzehnten kaum von der Geistlichkeit abzugrenzen. Heute bezeichnen Arbonier ihre Kundigen vorzugsweise als „Hexen“ und „Hexer“, bei den Flutländern heißen sie „Schamanen“, Manche nennen sie auch exotisch „Magier“. Sogar Heiler oder eben speziell dazu ausgebildete Geistliche können „kundig“ sein. Ihre Magietraditionen sind vielfältig, doch egal ob sie die Geister umschmeicheln, verführen oder mit ihren wahren Namen bezwingen, sie setzen sich ständig mit verschiedenen Schicksalsmächten auseinander.
In Trigardon haben sich zwei Lehren als historisch besonders einflussreich erwiesen: Die freimagische riasinatische Lehre und der Weg der („alten/wahren“) Natanstöchter und Natanssöhne.