Sammlung von Märchen und Legenden
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Inhaltsverzeichnis
Natans Blut und die Heilige Elea
IT: Von den Vorfahren des Kleinen Volkes mündlich überliefert seit Anbeginn von Tag und Nacht, in zwergischer Schrift und Sprache seit unbekannter Vorzeit schriftlich überliefert, in unserer Sprache erstmals niedergeschrieben im Haus der Winde gegen Ende des zweiten Jahrzehnts.
OT: Von Gösta
Es begab sich dereinst, als sich die Sterblichen aus Neid und Hass entzweiten, dass Weltvater Natan seinen Bruder Ischan zum Zweikampf forderte, um den Streit zu entscheiden. Weltvater Ischan jedoch, besorgt über die größere Zahl von Natans Stamm, fürchtete einen Betrug seines Bruders. Darum sprach er: „Nur dann werde ich mich zum Zweikampf stellen, wenn wir uns an einsamem Orte treffen, wo kein Mensch in den Kampf eingreifen kann!“ „So soll es geschehen,“ antwortete Natan, „aber einem von uns wird es die letzte Stunde sein. Und damit beide unserer Stämme die Nachricht von Sieg und Niederlage von einem der Ihren erfahren, soll es Zeugen für unseren Kampf geben.“
Darauf einigten sie sich und wählten als Kampfplatz einen der Gipfel des Dugor Harog. Jener Berg war in diesen fernen Tagen den Menschen heilig, war er doch damals noch der höchste weit und breit, so hoch, dass sein Gipfel nahezu alle Zeit durch Wolken verdeckt war. Ischan wählte Bakir den Schmied, den geschicktesten seiner Schüler, als Zeugen aus und Natans Wahl fiel auf Elea, seine treueste Schülerin, die von der Göttin des Wissens geliebt wurde.
Als sie seit sieben Tagnächten fortgegangen waren, erschütterten dumpfe Donnerschläge Riaplots Leib und so wussten die Menschen, dass der Kampf begonnen haben musste. Hatten sie doch Ischan mit mächtigen Waffen über der Schulter aufbrechen sehen, so groß und schrecklich, wie sie seither niemand mehr zu führen vermocht hat.
Dies war der Beginn der letzten Tagnächte, denen alles Volk am Dugor Harog hernach als den langen Mond des Schreckens gedachte. Von Jenen, die dort an den steilen Hängen wohnten, starben schon viele in der ersten Tagnacht und noch ungezählte weitere bis sich die Herrin der Erleuchtung zur Nacht wieder in voller Pracht den Menschen zeigte. Viele von ihnen wohnten in Höhlen am Berge, von denen sie nicht wenige selbst hinein gehauen hatten. Obwohl sie schon damals kundig darin waren, in Riaplots Fleisch zu graben und seine Knochen zu formen, so konnten sie doch noch nicht wissen, wie man Gänge und Höhlen baut, die auch dann zu überdauern vermögen, wenn sich die Erde regt. Und nie wieder mussten die Sterblichen erleben, wie der Leib des Königs der Berge sich so sehr in Schmerzen winden musste, wie damals, als Ischan die Schluchten in seinen Leib schlug und Natan ihm tiefe Wunden riss, um seinen Bruder mit Felsen zu erschlagen.
Nach sieben Tagnächten, als Ischans Arm erlahmte, schöpfte Natan neuen Atem, um seinem Bruder mächtige Flüche entgegen zu schleudern. Und weil er wusste, dass er auch Riamodan gegen sich hatte, rief er nach den Dienern der Riaranjoscha, auf dass sie die Leidenschaft in Ischan verlöschen mochten. Und als weitere sieben Tagnächte vergingen, da eilten die Nebelgeister auf himmlischen Rössern dem Natan zur Hilfe. Als die Sterblichen auch in der Ferne sie erblickten, erschraken alle, denn weithin sichtbar war ihr Heerzug ob seiner großen Zahl, größer als alle Reiterscharen in der Steppe und im Tal. Nie zuvor hatte die Herrin der Weisheit ihre Geister des Nebels mit solcher Stärke entsandt. Hoch über die Flüsse und Täler hinaus ragten sie, selbst zur wärmsten Stunde der Tagnacht ritten sie am Boden, wo sie doch sonst schon lange in den Himmel heimgekehrt wären. Als sie am Berg auf Ischan einstürmten, da erzitterte Riaplots Leib unter den Schlägen ihrer Hufe, viel mehr noch als unter Hieben des Weltvaters zuvor.
Und als in der viermalsiebten Tagnacht Riamodan sein Antlitz auf dem Gipfel des Dugor Harog zeigte, da erschraken die Sterblichen noch mehr. Denn die Nebelgeister hatten in ihrem Ansturm auch Bakir, den jungen Schüler des Ischan, zu Tode gestampft, den Pakt der Weltväter missachtend, wonach er nur Zeuge, nicht aber Teil des Kampfes sein durfte. Daraufhin schrie der starke Weltvater voller Wut und Rachedurst zum Thron im Feuer hinab und Riamodan antwortete, indem er seinem Günstling für einen mächtigen Zorneshau seine Macht lieh. Damit erschlug Ischan den Heerführer der Nebelgeister, woraufhin die übrigen die Flucht ergriffen. Doch fanden sie den rechten Weg nicht, sondern stürmten vom Gipfel des Dugor Harog in alle Himmelsrichtungen hinab und zermalmten alles zu Staub, was das Unglück besaß, unter ihre Hufe zu geraten. Und die Opfer unter den Sippen, die dort am Berge lebten, waren gewaltig.
Nun blieb Natan ohne Beistand dem flammenden Schwert des Ischan ausgeliefert und war schon auf seinen Knien, als Ischan zu seinem letzten Hieb ansetzte. So siegessicher war der stärkere Weltvater, dass er weithin ausholte und Natan Gelegenheit zu einer letzten List gab. Dieser umwickelte seine Hand mit seinem Mantel, schnellte vor und hielt die flache Klinge seines Bruders von sich fern. Doch Ischans Zorn war zu groß, statt mit der flammenden Klinge schlug er denn machtvoll und ohne Gnade mit des Schwertes Kloß hernieder, solange bis er Natan schrecklich zugerichtet hatte.
Natan wiederum ergriff im Todeskampf Ischans Arm und als er mit zerbrochenen Gliedern herniedersank, da ließ er nicht mehr los, sondern zog Ischan mit sich zu Boden. Und weil dieser in seinem Eifer die Gefahr nicht bemerkte, so kam es dann zuletzt, dass er in seine eigene flammende Klinge stürzte und die Mächte, die er selbst im Zorn gerufen hatte, ihn von Kopf bis Fuß versengten.
Als der Feuergott dies sah, erkannte er, dass kein Sterblicher zuvor und kein Sterblicher hernach seine Lieder in solcher Herrlichkeit würde erschallen lassen. Da weinte er Tränen, wie es sonst nur die Herrin der himmlischen Wolken zu tun vermag. Doch waren es graue Tränen, die sich auf Riaplots Leib herabsenkten wie Schnee. Dies war die dunkelste Stunde der Sippen unten am Berge und auch viele Menschen in der Steppe, im Wald und im Tal starben, denn Riamodans Tränen waren bitter und erstickten alles Leben.
Schließlich kam Elea aus einem Versteck hervor, wo sie zuletzt ausgeharrt und die schreckliche Schlacht mit eigenen Augen geschaut hatte. Und als sie zu Natan kam, da war er bereits dem Tode geweiht und ihr blieb nichts anderes, als seinen Kopf in ihrem Schoße zu betten und seine zerschmetterte Hand zum Trost in die ihre zu legen. Da kam es, dass sich im heiligen Natan ein letztes Mal die Lebensgeister regten und er zu der frommen Elea sprach: "Sieh, die Zwietracht ist über uns gekommen und unser Streit muss unentschieden bleiben. In unserer Zwietracht haben mein Bruder und ich großes Unglück über alle unter dem Himmel gebracht. Die Geister, die ich rief, haben Heimstätten verwüstet und viele auf ihrem Weg erschlagen, die nicht hätten teilhaben sollen an unserem Kampf. Diese Schuld will ich nicht mit zur Herrin der Seelen nehmen, doch mein letzter Atem schwindet. So bitte ich dich, Elea, bete zu den sieben großen und herrlichen Göttern an meiner statt für die Gunst der Sippen unten am Berge.“ Elea sprach, dies wolle sie für ihren Meister gerne tun und darauf legte der heilige Natan dankbar seine blutige Hand auf Ihre Schulter und schloss für immer seine Augen.
So kam es dann, dass die fromme Elea voller Hingabe zu den sieben großen und herrlichen Göttern zu beten begann. „Oh König der Berge,“ bat Elea, „möge das Blut, welches mein Meister vergoss, dein Opfer sein! Ich bitte dich, nimm diese Gabe an.“ Und weil sie nicht aufhörte, als Durst und Müdigkeit sie plagten, sondern tapfer ausharrte, erhörte Riaplot ihr Flehen und verwandelte Natans Mantel, mit dem er seine Hand umwickelt hatte, in den Mohn, der allen Schmerz besänftigt. Als Elea, die von ihrem Meister alles über die Kräuter, Moose und Pflanzen gelernt hatte, nun eine Blume sah, die ihr noch fremd war, verstand sie, dass sie erhört worden war.
„Ihr großen und herrlichen Sieben, hört meinen Eid, der der Eid des Natan ist. Er gibt das von ihm vergossene Blut als Opfer, sein eigenes Blut aber, das von seinem Bruder vergossen wurde, soll das Pfand der Sippen unten am Berge werden, bis zu der Zeit, in der er wiedergeboren wird und seine Schuld bezahlen kann.“ So betete sie, bis schließlich die erste Nacht der Welt hereinbrach und der erste Tag ihr folgte.
An jenem ersten Tage stiegen Überlebende von den Sippen unten am Berg hinauf und erst am Abend fanden sie die fromme Elea im Gebet, den verbrannten Leib Ischans zu ihrer rechten, den zerbrochenen Leib Bakirs zu ihrer linken und den zerbrochenen Leib des Natan zu ihren Füßen, sein Blut an ihrer Hand, den Abdruck seiner Hand auf ihrem weißen Kleid. Daraufhin berichtete Elea den Sippen, die am Dugor Harog wohnten, von Natans letztem Wunsch. Und die Sterblichen staunten, denn als sie zu Boden blickten, da ward das viele Blut, welches Natan vergossen hatte, zu Silber verwandelt, wie ein Abbild des hellen Glanzes der Riasina.
Und dies sprach Elea: "Seht, die sieben Großen und Herrlichen Götter haben meine Gebete erhört. Das Blut, welches Natan im Bruderzwist vergoss, ist Euch nun silbernes Pfand für das Unglück, welches Ihr erlitten. Und wenn ihr fragt, wann die Zeit gekommen sei, dass der weise Weltvater sein Pfand einlöse, so seht, dass nicht all sein Blut geronnen ist. Ein kleiner Teil ist noch immer flüssig, obgleich die Götter es zu Silber gemacht haben. Dieses Silber sollt ihr mit Ehrfurcht suchen und bewahren, denn ihm wohnt Natans letzte Kraft noch inne. Und erst wenn der letzte Tropfen geronnen ist, dann wird er wiedergeboren werden und seine Schuld begleichen. Doch seid demütig und verschwendet nicht, was die sieben Großen und Herrlichen gegeben, denn der König der Berge wird jene strafen, die zu gierig sind."
Fortan holten die Nachkommen jener Sippen am Dugor Harog kostbares Silber aus dem Berg, wo vorher Natans Blut vergossen worden war. Und alle, die Freunde des Natan gewesen waren, zeigten sich dankbar und dienstbar, wann immer ihnen die Ehre zuteilwurde, sein nunmehr von göttlichem Segen erleuchtetes Blut zu schauen und zu besitzen. Denn durch Eleas Zeugnis galt das Silber aus dem Dugor Harog auch stets als ein Zeichen des Edelmutes und der Demut, die Natan mit seinen letzten Atemzügen gezeigt hatte. Damit war das Leid der Sippen, die dort am Berge wohnten, gemildert, konnten sie doch Silber gegen Brot und Bier und Dörrfleisch und Nüsse tauschen, als weithin um den Dugor Harog, ob der großen Schlacht die dort getobt hatte, für lange Zeit kein Strauch und kein Baum Früchte trug.
Und so wie Ischan zu Asche verbrannt war, so verbrannten sie auch die Leiber seines Bruders und seines Schülers, um so wenigstens nach dem Tode der zänkischen Brüder ihrem Neid keine Nahrung mehr zu geben. Seitdem bestattet man die Toten auf diese Weise. Während die Weltväter noch heute auf ihre Wiedergeburt warten, so kehrte Bakirs Seele schon in der übernächsten Generation zurück ins Leben und wurde denen geboren, die von seiner Mutter abstammten. Zuvor aber wandelte sein Ahnengeist unter denen, die seine Urne befüllt hatten und ihn ehrten. Ihnen allein verriet er alle Geheimnisse der Schmiedekunst, die er von Ischan einst gelernt hatte. Und bis in unsere Tage werden diese Geheimnisse weiter gegeben von Meister zu Schüler.
Auch die treue Elea verlebte ihre übrigen Tage unter den Sippen des Dugor Harog, pflegte den Mohn, den Riaplot ihr als Zeichen seiner Gunst geschenkt hatte und ihre Nachkommen pflegen ihn noch heute.
Die Geburt von Sommer und Winter
IT: Seit unbekannter Vorzeit von den Stämmen Ischans und Natans mündlich überliefert, erstmals niedergeschrieben im Haus der Winde im ersten oder zweiten Jahrzehnt.
OT: Von Anna
Dies ist die Geschichte von der Geburt von Winter und Sommer. So habe ich sie von meiner Großmutter gehört und so erzähle ich sie euch, meine Kindeskinder.
Zu der Zeit als die Stämme Ischans und Natans sich entzweit hatten, tränkten Flüsse von Blut Riaplots Leib. Die Leben der Menschen und ihre ganze Kraft, viel zu früh vergossen und noch heiß und brodelnd sank tief in den Schoß des großen und herrlichen Gottes und ihm entsprang eine goldene Schlange, so heiß und so schön wie Riasions Auge. Ihr Name war Evörr und wohin sie auch ging, wurde das Land fruchtbar und alles wuchs und gedieh um sie. Doch war das Blut aus dem sie geboren war, zu heiß vom Kampfe. Wenn sie länger an einem Ort verweilte, wurde aus Fülle Dürre und aus Leidenschaft Raserei. So zog sie rastlos durch die Lande und hatte keine Ruhe.
Das ständige Sterben der Menschen füllte auch Riadugoras Hallen mit dem kühlen Hauch der Seelen. Ihre Winde wurden nie müde, die Toten herbeizubringen. Ein solches Brausen herrschte in den Gewölben der Unterwelt, dass die Toten keine Ruhe finden konnten. So legte sich Riadugora also nieder und gebar eine silberne Schlange, so kalt und so schön wie Riasinas Auge. Sein Name war Jardo und wohin er auch ging, brachte er Ruhe und Andacht. Doch die Kälte des Todes und die neugewonnene Macht der Winde waren zu stark. Wenn er länger an einem Ort verweilte, wurde aus Ruhe Starre und aus Andacht Untätigkeit. So zog er rastlos durch die Lande und hatte keine Ruhe.
Eines Tages begegneten sich Jardo und Evörr auf ihrer nie enden wollenden Reise. Die Liebe zwischen ihnen war bereits groß, als ihre Blicke sich trafen und sie wuchs mit jedem Tag. Von nun an wandelten sie gemeinsam und wohin auch immer sie gingen, blühte und grünte es und die Erde verschenkte ihre Gaben so bereitwillig wie zu den Zeiten vor dem Bruderkrieg. Als Riaplot dies sah, weinte er, denn er liebte seine Tochter sehr. Noch größer aber als seine Liebe war sein Zorn gegenüber den Menschen, sodass er Riason bat, Jardo und Evörr auf immer zu trennen. Riason kam dieser Bitte schweren Herzens nach, denn auch er erfreute sich an der Harmonie der beiden Liebenden. In seiner Weisheit kettete er Evörr an die Sonne und Jardo an den Mond. Wenn Götter und Menschen versöhnt sind und die ewige Tagnacht herrscht, werden auch die Kinder von Erde und Wind wieder zueinanderfinden. Bis dahin werden wir heiße Sommer und kalte Winter haben und besonders die Winter werden Riaplots Geschöpfen Mühe bereiten, denn Jardo ist nicht leicht versöhnt.
Der Yerig-Baum
IT: Im südlichen Längstal mündlich überliefert seit einer Zeit, in der die Vergessene Sprache schon vergessen war und in der die Nurynaische Sippe schon Yergigar besaß, erstmals niedergeschrieben im Haus der Dämmerung Anfang des zweiten Jahrzehnts.
OT: Von Franziska
Als die Zahl Menschen in Arbons grünen Auen noch gering war und man noch Tage wandern konnte, ohne den Rauch eines wärmenden Feuers zu sichten, lebte ein Jäger, dessen Name Yerig war. Er war der Sohn einer starken Sippe, Vater gesunder Kinder und seine Jagdkunst ward viel gelobt. Und war er auch ein götterfürchtiger Mann, dankte den Göttern jeden Morgen und jeden Abend, brachte Opfer zu den Hohen Tagen und nach jeder Geburt eines Kindes.
So gab es ein Jahr, als das Vieh in den Wäldern wenig wurde und Yerig weite Wege und lange Tage laufen musste, bis er Wild legen konnte. Er fand sich in ungekannten Weiten, als er schließlich in der Ferne einen Hirsch zu sehen glaubte. So versessen auf die nahe Beute, blieb er blind für die Gefahr und hörte das Gebrüll des Bären, bevor er ihn sah. „Oh ihr Götter, lasst Gnade walten! Wendet des Bären tödliche Pranke ab!“
Der Bär holte aus und schlug den Jäger nieder, seine Glieder brachen und sein Körper ging zwischen den Gräsern nieder. Mit dem letzten Atem sprach er an die Götter: „Ihr Großen und Herrlichen! Habe ich euch nicht geehrt? Habe ich nicht jeden Morgen und jeden Abend eure Namen gepriesen, euch gegeben von meinen Gütern, was ich entbehren konnte und nicht für jedes Kind mit Opfer gedankt? Habe ich nicht gelebt, wie es ein ehrfürchtiger Mann nur kann? Wie könnt ihr es Recht nennen, dass mein Körper, der eben noch den Hirsch mit einem Schuss zu töten vermochte, nun hier geschunden liegt und ich das Leben verliere fern von der Heimat und der Sippe? Wie könnt ihr es Recht nennen, dass die Tiere mich fressen werden anstatt einer würdigen Bestattung neben meinen Ahnen?“
Als er nicht mehr sprach zogen die Wolken über der Ebene zusammen, der Himmel wurde dunkel und er vernahm die Stimme Riadoguras, die zu ihm sprach: „Was maßt es du dir an, einzelner Sterblicher, zu zweifeln an den Göttern und nicht zu danken, was dir gegeben ward! In eine ehrwürdige Sippe wurdest du geboren, einen starken Arm ließen wir dir wachsen, einem fruchtbaren Weib wurdest du gegeben und die dir geborenen Kinder ehrten dich. Willst du zweifeln, dass dies die rechte Zeit sei in meine Hallen einzukehren? So sei dir noch weitere Zeit auf dieser Erde gegeben. Dein Körper soll weilen auf diesem Fleck, so dass du Zeit hast, über deine Worte zu sinnen. Ein Baum sollst du werden und zu unseren Ehren sollst du wachsen.“
Da erkannte der Jäger die Schande seiner Worte. „So will ich tun, wie mir befohlen, und in ehrfurchtsvoller Arbeit meine Tage verbringen, wie die Götter es bestimmten.“ Und seine Knochen wurzelten tief in die Erde und zogen mit aller Kraft Riaplots Geschenk des Lebens in sich auf. Und aus seinen Lenden wuchs ein Spross gen Himmel, der sich an Riasions Geschenk der Sonnenstrahlen wärmte. „Groß will ich werden und Blätter und Früchte tragen, tief verwurzelt will ich sein und meine Haut stark wie Stein. Zu Ehren der Götter will ich jeden Tag wachsen und danken für mein Leben.“
Und so geschah es, und der Baum wurde stark und seine grüne Krone immer dichter. In den Ästen des Baumes ließen sich die Vögel des Himmels nieder und bauten ihre Nester. Kriechtiere bauten ihre Höhlen zwischen den Wurzeln und der einsame Wanderer fand Schatten unter seinem Blätterdach. So zog der Sommer voran und der Baum brachte hart arbeitend Früchte hervor, saftig waren sie, und wurden röter von Tag zu Tag.
Voller Stolz mühte der Baum sich, sie immer größer und saftiger werden zu lassen, da begannen die Vögel bereits, die Früchte zu fressen und die vorbeiziehenden Wanderer zu pflücken, was sie tragen konnten. Da wurde der Baum betrübt und rief zu den Göttern: „Seht ihr großen Götter, getan habe ich, was mir befohlen ward. Gearbeitet habe ich jeden Tag und der Erde abgetrotzt, was ich konnte. All die Mühe habe ich in diese Früchte gesteckt und nun sollen die faulen Vögel sie fressen? Soll jeder Dahergelaufene einfach sich den Wanst mit meinem Tagewerk vollstopfen dürfen, ohne den Finger dafür krümmen zu müssen?“
Da sprach Riaplot aus der Erde und den Pflanzen zu ihm: „Sterblicher, ein zweites Mal schon beklagst du dein Schicksal, obwohl die Götter dir mit vollen Händen geben! Wärmte die Sonne dich nicht durch Frühling und Sommer? Gab ich dir nicht aus der Erde all die Kraft, die zu brauchtest? Und stillte der Regen nicht deinen Durst alle Tage? Geize nicht mit deinen Früchten, was bringt es dir, wenn sie an deinen Ästen faulen? Ein Mensch bist du nicht mehr, die Früchte sind für andere.“
Wieder erkannte der Baum Yerig seine Fehlerhaftigkeit: „Große Götter, ich danke euch abermals und bitte um Vergebung. Meiner Arbeit Früchte will ich geben, wer sie verlangt, auf dass sie einem anderen nutzen.“ Als dann die letzte Frucht gepflückt war, wollte der Baum noch immer nicht ruhen. Denn Arbeit war es, was die Götter den Sterblichen auferlegt hatten. Und so begann er sein Antlitz in prächtigen Farben zu schmücken. In Rot und Gold ließ er seine Blätter strahlen, auf dass von weit her seine prächtige Krone zu sehen war.
Doch das prächtige Farbenspiel lockte die Kinder Riadugoras, die Winde: „Sie an, welch schönes Spielzeug! In Rot und Gold ist es aufgemacht!“ - „Lass uns hineinfahren in die Krone und sehen wie die Blätter fliegen!“ Und die wilden Winde fuhren in das Blätterdach, zupften an jedem Ast die Blätter und tanzten wild mit ihnen im Kreise. Doch unbeständig wie die Windeskinder sind, ließen sie ihr Spielzeug alsbald fallen, nur um am nächsten Tage noch einmal zurückzukehren und neues Blattwerk zu zupfen. Wie der Baum Yerig so seine Arbeit zu Boden gleiten sah, würde er traurig und rief die Götter ein drittes Mal an: „Seht ihr Großen, wieder habe ich getan, wie mir geheißen, Mühe und Fleiß in meine Arbeit gesteckt. Doch wie lohnen es mir die Winde? Sie zerreißen mein prächtiges Haupt und lassen die Fetzen arglos am Boden liegen!“
Und wieder zogen die Wolken zusammen und aus ihrer grauen Mitte spricht Riadugoras Stimme: „Sterblicher wieder zweifelst du an uns. Doch was maßt du es dir an, dich zu schmücken in prächtigen Farben? Der eitle Tand steht dir nicht zu, so tragen die Winde ihn fort. Und auch ist es Zeit für dich, die Arbeit ruhen zu lassen. Was dem Mensch der Tag, ist dem Baum das Jahr. Und so wie der Mensch abends seine Glieder zur Ruhe bettet, ist es Zeit für dich, alle Anstrengungen sein zu lassen und über den Winter zu träumen. Doch fürchte dich nicht: Riaranjoscha wird eine Decke aus Schnee über dich breiten, auf dass du im Frühling die Arbeit erneut wirst aufnehmen können.“
Als der Schnee aber gefallen war, ächzte der Yerig schwer unter dem Gewicht, schüttelte sich und warf ihn zornig hinfort. Noch ehe er aber diesmal ein Wort des Undankes sprechen konnte, fuhr ein Blitz in ihn ein, fällte ihn und verbrannte ihn zu Asche. Und da die Götter nun lange keine Klage mehr von Yerig hörten, erbarmten sie sich zum nächsten Frühjahr und ließen aus seiner Asche neunundvierzig Blumen spießen. Sie weilten in einem glücklichen, unbeschwerten Leben, tranken Riaranjoschas Wasser, wärmten sich unter Riasions Angesicht, speisten von Riaplots Gaben, vermehrten sich, um am Ende in Riadugoras hütende Arme zu sinken. Sie lebten nur um zu leben in Göttlichem Frieden. Und wie es war, so hatten die Götter ihre Freude daran, denn es war ihr Wille, weil sie es gemacht hatten wie es war.
Wie der Schnee entstand
IT: Seit unbekannter Zeit im Tejadun mündlich überliefert, erstmals niedergeschrieben im Haus der glänzenden Sonne im zweiten oder dritten Jahrzehnt.
OT: Von Alice
Es war wohl zu Zeiten des heiligen Timor - weder die Ältesten und Weisesten können dies jedoch mit Sicherheit sagen - dass am letzten Tag, bevor der erste grüne Halm des Frühlings in der Steppe spross und sich Jardo für den nahenden Frühling von Riaplots Angesicht verabschieden musste, er drei Schwestern erblickte, die in der Steppe ihre Stuten molken. Die Frauen gefielen ihm gut und so beschloss er, sich mit ihnen den letzten Tag vor seinem Abschied zu versüßen. In Schlangengestalt kroch er über die Wiese und nacheinander kroch er unter die Röcke aller drei. Die drei Schwestern, von denen keine verheiratet war, fanden sich nun bald schwanger und danken den Göttern für das Zeichen ihrer Fruchtbarkeit. Später im Jahr, in der Nacht des ersten schweren Wintersturmes gebaren alle drei ihre Söhne.
Die große und herrliche Riadugora sah dies und wurde zornig. „Es soll nicht sein, dass mein Sohn, der Gefährte der Nacht, sich mit Sterblichen paart!“ Riadugora ließ die Nächte länger und finsterer als je zuvor werden. Vieh verirrte sich in der Dunkelheit und erfror und die Menschen bekamen Angst und trauten sich bald nicht mehr vor die eigene Tür. Die Mutter der Schwestern erschrak, denn sie erkannte dies als Zeichen des Zorns der Göttin und riet ihren Töchtern: Ihr müsst euch der Allverzeihenden stellen, wenn sie es will von Angesicht zu Angesicht, und zwar heute, denn dem Zögernden wird nur zögerlich verziehen. Die Schwestern fassten sich ein Herz und ritten hinaus in die Steppe zum Geisterhügel. Nach Sonnenuntergang riefen sie ihre Ahnen um Beistand an und boten der großen und herrlichen Riadugora ihr letztes Vieh als Opfergabe. Sie warteten beharrlich in der bitteren Kälte, bereit zu geben, was die Herrin des Atems ihnen nehmen wollte. Die Allverzeihende legte ihre Stirrn in tiefe Falten: Sie sah die Verzweiflung doch sah sie auch den Mut und die Aufrichtigkeit des Opfers. Die Schwestern harrten bis zum Morgen aus, und die Allverzeihende beschloss schließlich, dass sie den Frauen nicht das Leben nehmen wollte, und so verwandelte sie die Schwestern in drei schwarze Falken. Um zu verschleiern, wo ihre Seelen wandelten rief sie mit ihrer Schwester viele Nebelgeister zu sich und schickte sie in einer wilden Jagd über die Steppe, um ihren Sohn irrezuführen. Im Federkleid kehren die Schwestern vor Jardos Augen verborgen zu ihrer Sippe zurück, mit Falkenaugen wachten sie über ihr Heim, und mit ihren scharfen Klauen jagten sie fortan für ihre Kinder, die nie wieder Hunger hatten. Als die jungen Söhne herangewachsen waren, wurden sie zu großen Jägern und ihre Sippe groß und fruchtbar.
Jardo wurde traurig, dass seine Mutter die Mütter seiner Kinder in der Kälte sterben lassen hatte und mit Hilfe ihrer Schwester ihre Seelen zu rastlosen Nebelgeistern gemacht hatte. In der Tat wurde er wütend, dass seine allverzeihende Mutter so unversöhnlich gegenüber seinen Kindern war und grausam zur alten Großmutter, die mit gebeugtem Rücken und trüben Augen weder Vieh hüten noch den Acker bestellen konnte. Alt wie sie war, hätte sie vor ihren Töchtern sterben sollen, doch nun musste sie noch die Kindeskinder ernähren. Er sann auf eine List um die grausame Tat seiner Mutter zu mildern. Lange saß er auf einem grauen Stein und grübelte, doch es wollte ihm nicht gelingen. Während er saß und grübelte, begann er, Wollflusen aus seinem Mantel zu rupfen und je mehr er nachdachte, desto mehr rupfte er Fussel aus. Diese Flusen fielen hell auf Riaplots Antlitz und wie er so dasaß und grübelte und rupfte, wurde die Erde ganz davon bedeckt. Die Decke vervielfachte in der Nacht das Licht Riasinas und der Sterne, und die Menschen schöpften neuen Mut. Riadugora blieb es nicht verborgen, dass ihr Sohn wütend gegen sie war, doch lächelte sie und befahl ihren Windgeistern, nun eine Weile zu ruhen. So blieben die Spuren von verirrtem Vieh noch lange bestehen, sodass kein Hirte mehr lange nach einem verlorenen Schaf suchen musste.
Aynur, die Schäferin
IT: Seit unbekannter Zeit im Tejadun mündlich überliefert, erstmals niedergeschrieben im Kloster des Heiligen Danason Anfang des fünften Jahrzehnts.
OT: Von Tobias
Früh im Sommer war eine junge Schäferin bei den Herden der Sippe, saß vor Ihrer Jurte und flickte gerade ihr Zaumzeug. Aus dem halbhohen Gras tapste ein Murmeltier auf sie zu, blieb vor ihr stehen und sprach sie an. "Wer bist du denn und was machst du hier?" „Ich heiße Aynur, bin Schäferin und hüte die Herden meines Vaters und meiner Sippe. Du musst müde sein, komm doch in meine Jurte, setz dich ans Feuer und iss und trink etwas - sei mein Gast.“ Das Murmeltier lief in die Jurte, trank Wasser und aß etwas von dem Brot mit Kümmel. Es erzählte der Schäferin von Wiesen mit süßen Kräutern und den Träumen die es im Winter geträumt hatte, bedankte sich und machte sich wieder davon.
Etwas später im Sommer, die Nächte waren inzwischen frei von Frost, bekam die Schäferin erneut Besuch. Eine Gazelle trat vor die Jurte hin und fragte: "Wer bist du denn und was machst du hier?" „Ich heiße Aynur, bin Schäferin und hüte die Herden meines Vaters und meiner Sippe. Du musst müde sein, komm doch in meine Jurte, setz dich ans Feuer und iss und trink etwas - sei mein Gast.“ Nach dieser freundlichen Einladung rief die Gazelle ihr Junges aus dem hohen Gras und beide betraten die Jurte. Das Junge sprang in der Jurte über alle Kissen und Kisten, sie aßen und tranken und hatten einen vergnüglichen Abend.
Einige Tage vergingen, es war schon beinahe Abend, da trottete ein Dachs auf die Jurte zu. "Wer bist du denn und was machst du hier?" „Ich heiße Aynur, bin Schäferin und hüte die Herden meines Vaters und meiner Sippe. Du musst müde sein, komm doch in meine Jurte, setz dich ans Feuer und iss und trink etwas - sei mein Gast.“ Der Dachs brummte zuerst etwas missmutig vor sich hin, nahm die Einladung aber doch an. Er nahm gerne von dem Trockenfleisch der Schäferin und davon durstig geworden noch mehr vom Wein, den sie ihm anbot. Mehr als ein bisschen betrunken sang er ihr alle Leider vor, die er kannte und schlief am Feuer ein.
Im Lauf des Sommers besuchten weitere Tiere der Steppe die junge Schäferin. Eine Schlange verbrachte die Nacht um das Herdfeuer geringelt und deutete ihre Träume, ein stolzer Hirsch lief mit ihr und ihrem Pferd um die Wette, von den hohen Gipfeln kam ein Adler zu ihr herab, der ihr Geschichten von jenseits der Berge erzählte und einer der wilden Esel trug sie, nachdem sie ihn zu Gast geladen hatte auf seinem Rücken zu einem versteckten Wasserloch, das sie bis dahin noch nicht gekannt hatte. Ihnen allen stellte sich Aynur vor und sie alle lud sie zu Gast.
Am Ende des Sommers, die Nächte waren schon viel länger geworden und der Herbst färbte das Land hörte die junge Schäferin ein heulen das nicht der Wind war. Sie löschte das Feuer in der Jurte, trieb die Schafe ein gutes Stück weit weg und gürtete sich mit dem langen Messer. Zurück an der Jurte setzte sie sich vor den Eingang und wartete. Es wollte schon fast Nacht werden, als ein großer grauer Wolf vor sie hintrat. Seine gelben Augen leuchteten über den elfenbeinweißen Zähnen. Er knurrte leise. "Ein Menschenkind... Was machst du denn ganz alleine in der weiten Steppe?" Aynur antwortete ihm: "Ich hüte meinem Vater die Jurte, er ist beim ersten Morgengrauen fort auf die Jagd, das ist sein Handwerk. Das Feuer in der Jurte ist leider ausgegangen, aber du kannst gerne auf ihn warten, damit er es wieder entzündet. Ich erwarte ihn jeden Moment!" "Oh, keine Umstände meinethalben, Ich muss fort, ich habe dringende Geschäfte zu erledigen..." antwortete der Wolf.
Jedermanns Bruder
IT: Seit unbekannter Zeit von den Stämmen Ischans und Natans mündlich überliefert, erstmals niedergeschrieben im Haus der Winde im zweiten oder dritten Jahrzehnt.
OT: Von Alice
Einst, vor langer, langer Zeit, als Riasina ihre Herde zu sich rief und ihr Antlitz vor den Menschen verschleierte, kam es zu den Ereignissen, von denen ich euch nun berichten will. Bei dieser Mondfinsternis nämlich, gelang es Jardo, dem Gefährten der Nacht, sich aus den silbernen Ketten des Wissens zu befreien, mit denen er an Riasinas Thron gekettet ist, seit Anbeginn von Tag und Nacht. Was folgte nun, da der Herr von Frost und Schnee nun frei war, zu tun, was er wollte? Überzog er alles mit Kälte und der unsichtbaren Macht seiner Mutter? Machte er sich auf den Weg, endlich seine Geliebte zu erreichen, nach der er sich so viele Menschenalter schon sehnte? Nichts von Alledem! Die Menschen bemerkten sein Fehlen erst gar nicht und erfreuten sich an einem langen, warmen Sommer. Der Sommer hatte das Korn reifen lassen, doch die Früchte an den Bäumen verdorrten, ehe sie reif wurden. Und das, was den Menschen von der Ernte übrigblieb, wurde von Fliegen heimgesucht. Niemand konnte mehr ruhig schlafen, so viele Plagegeister hielten die Menschen nachts wach.
Ein Bauer, der sein Haus am Fluß hatte, besah sich seine Felder, seinen Speicher und sein Haus, wo es von Fliegen und Schnaken nur so wimmelte, und sprach: „Dank sei dir Riaplot, doch wie sollen wir nur überleben, wenn unsere Vorräte verderben, noch ehe der weiße Mantel die Erde bedeckt? Wenn er doch nur kommen würde, der Gefährte der Nacht, mit Eis und Schnee, ehe es zu spät ist. Ich bitte dich, Gefiederte Schlange, kehre ein in mein Heim!“ Der lange Sommer bescherte nicht nur Sonne. Nicht weit entfernt vom Bauern ging ein Jäger auf die Jagt. Eines Tages hatte der Jäger einen großen Hirsch verfolgt, als ein Unwetter aufzog und ein heftiger Regen ihn überraschte. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher und zielte. Doch just in diesem Moment barst sein geliebter Bogen, denn der Regen hatte das Holz aufquellen lassen. Das Wasser klatschte und prasselte ihm nur so ins Gesicht, dass er bald rein gar nichts mehr sah und als er schließlich nach Hause kam, goss er ganze Bäche aus seinen Stiefeln. Der Hirsch war unterdessen in den Wald zurückgesprungen. Da rief der Jäger: „Wie soll ich nur jagen? Was wird aus mir? Bei diesem Regen muss ich mir bald eine Angel bauen und ein Netz knüpfen und auf die Pirsch gehen nach Hirsch-Fischen und Reh-Fischen! Wie glücklich wäre ich, wenn der Gefährte der Nacht die Blätter von den Bäumen fegen und mir ein paar schöne frost-klare Nächte bescheren könnte! Ich bitte dich, Gefiederte Schlange, kehre ein in mein Heim!“ Der lange Sommer bescherte den Menschen viele saftige Weidegründe. Und so trieben die Hirten im Tal ihre Herden immer weiter und weiter. Doch die Mutter der Hirtensippe blieb allein zurück. Als die Zeit für die Herbstnächte immer näher rückte, sorgte sie sich sehr, denn noch war keines ihrer Kinder an das Herdfeuer ihres Heims zurückgekehrt. Die alte Frau rief: „Was wird nur aus mir altem Weib! Vor Sorge kann ich nicht schlafen und vor Einsamkeit werde ich noch ganz krank! Hilf mir, Gefährte der Nacht, und weise meinen Kindern den Weg zurück an mein Feuer! Dort wollen wir das Ende des Sommers feiern und dich preisen! Ich bitte dich, Gefiederte Schlange, kehre ein in mein Heim!“ Landauf und landab im ganzen Tal riefen die Menschen bald: „Ich bitte dich, Gefiederte Schlange, kehre ein in mein Heim!“ All dies Rufen und Bitten hörte Jardo und beschloss, in die Heime derer einzukehren, die so flehentlich um seine Hilfe baten. Er kehrte ein in das Haus des Bauern, brachte alle Fliegen und Schnaken zum Schweigen, sodass die Vorräte nicht verdarben und der Bauer nach langer Zeit endlich wieder ruhig schlafen konnte. Er fegte die Blätter von den Bäumen und brachte frostige Nächte, in denen der Jäger mit reicher Beute von der Jagt heimkehrte. Er geleitete mit eiskaltem Westwind und Raureif die Hirten zurück zu ihrem Heim, wo sie zum Festessen mit ihrer Mutter fette Schafe schlachteten.
Als Wanderer ging er in den Häusern und Jurten ein und aus und zu den Menschen sprach er: „Ihr habt mich in euer Heim gerufen. Nun, hier bin ich, bereit zu bleiben und zu geben, was ihr so lange vermisst habt. Doch habe ich drei Bedingungen: Jedem, der an eurer Tür Gastrecht erbittet, dem sollt ihr es gewähren! Bruder sollt ihr mich nun nennen, wenn ich in eurem Heim wohne! Und die Vögel, die füttert nicht vor eurer Tür, sondern dort, wo ihr auch euer Vieh füttert! Und ganz besonders die Eule, die nachts durchs Fenster schaut, die sollt ihr vertreiben, denn sie erspäht für die mächtige Riadugora die Seelen, die sie bald holen kommen will! Verriegelt die Fenster, dass sie eure Kinder in ihren Betten nicht zu lange ansieht!“ So verging die Zeit, in der der Gefährte der Nacht in den Häusern ein und aus ging. In den kurzen Tagen zehrten die Menschen von ihren Vorräten und fütterten ihr Vieh. Die wenigen Vögel, die sich an den Resten vom Viehfutter und Brotkrumen gütlich taten, hielten sie von ihren Türschwellen fern. Nachts kamen sie um die niedrig brennenden Herdfeuer zusammen, um zu erzählen. Sie hießen Gäste willkommen und waren froh und glücklich, Jedermanns Bruder in ihrer Mitte zu wissen. So vergingen Tag um Tag und Nacht um Nacht.
Die Große und Herrliche Riasina hatte sich derweil ihre Herde genug besehen, warf den Schleier ab und begab sich zu ihrem silbernen Thron, um ihre Reise fortzusetzen. Doch was fand sie dort? Leere Ketten und keine Spur der silbern gefiederten Schlange! Mit den geborstenen Ketten ging sie zu ihrer Schwester, damit sie ihr helfen könnte, den Flüchtigen zu finden. Die Allverzeihende kniff die Augen zusammen und siehe da: enddeckte sie Spuren ihres Sohnes im Tal zwischen den zwei Flüssen. So schickte sie ihre Vögel um Ausschau nach Jardo zu halten. besonders ihre alte treue Eule ließ sich nachts still und unentdeckt in den Bäumen nahe der Häuser nieder, um durch die Fenster zu spähen und zwischen all den Menschen den Sohn ihrer Gebieterin ausfindig zu machen. Doch es wollte ihr bei dem dichten Gewimmel an Menschen in den Häusern nicht gelingen. Tapfer saß sie Nacht um Nacht still ohne ein einziges, leises „Schuhu“ auf ihrem Baum und spitzte die Ohren. Doch hörte sie die Menschen sich untereinander nur Bruder nennen. Bald enddeckte sie manch ein Vater auf ihrem Baum und begann, Steine auf sie zu werfen und sie mit den Worten zu verscheuchen: „Fort mit dir, wag es ja nicht, meine Kinder anzusehen, wie sie in ihren Betten schlafen!“ Das machte die alte, weise Eule stutzig. Hatten die Menschen sie nicht immer freundlich begrüßt, wenn sie auf einem Baum neben dem Haus saß, durch die Fenster die schlafenden Kinder besah und ihnen durch ihr „Schuhu“ gute Träume brachte? Hatte nicht manch eine Mutter nachts das Fenster offengelassen oder war gar mit einem weinenden Kind im Arm vor die Türe gegangen, damit es sich beruhigte und einschlief? Sie flog heim zu ihrer Gebieterin und berichtete von all dem was sie gehört und gesehen hatte. Die Allverzeihende ahnte, was geschehen war. Ihr Sohn weilte unter den Sterblichen und verweilte zwischen ihnen, um sich seiner Pflicht zu entziehen. Und so schickte sie die Eule zurück zu den Menschen mit einer List.
Im Tal zwischen den zwei Flüssen wurden derweil die Nächte immer länger und kälter, jetzt, da Jedermanns Bruder bei den Menschen eingezogen war. Der Bauer besah sich seinen leeren Speicher, in dem selbst die Mäuse erfroren waren. Er seufzte: „Wie sollen wir leben, wenn wir bald das Saatgetreide essen müssen?“ Der Jäger kehrte bald immer öfter mit leeren Händen von der Jagt zurück. Denn im tief verschneiten Wald war kaum noch Wild zu finden. Am Herdfeuer der Sippenmutter tranken die Hirten bald nur noch dünnen Tee. Und statt Geschichten und Gelächter hörte man oft nur noch Murren und Zank. Denn mit der Zeit wird, wie wir alle wissen, die Enge Manchem lästig. So kam es, dass eines Tages ein Mütterchen aus ihrer Jurte trat und nach ihren Tieren sah. Gerade hatte die Sippe das Abendgebet gehalten, schon stritten drinnen am Feuer ihre Töchter, während ihre Söhne grimmig und stumm in die Glut starrten. Da sah sie auf einem Baum die Eule sitzen. Alt wie sie war, hatte sie keine Angst vor ihr. Was Jedermanns Bruder über die Eule sagte, beeindruckte sie nicht sehr. Die Kindeskinder schliefen in diesen Nächten zwar schlecht, es war jedoch keines gestorben und sie selbst hatte schon seit langem ihren Frieden gemacht. Wenn Die, Deren Thron am Ende steht, sie durch ihre Dienerin in ihre Hallen einladen würde, so sollte es eben geschehen. „Grüß dich Mütterchen, Schuhu,“ rief die Eule. „Guten Abend, Eule,“ sprach das Mütterchen. „Kalt ist es, Schuhu! Alleine hier draußen?“, sagte die Eule. „Drinnen ist Streit, hier draußen ist Frieden. Zu viel Lärm für meine alten Ohren.“ „Wie kommts? Schuhu,“ „Jedermanns Bruder treibt die Leute zusammen und die Zeit wird ihnen lang. Keine Butter im Tee, alle Wolle versponnen, alle Geschichten schon siebenmal erzählt. Dafür teilen wir uns jetzt die Läuse und die Wanzen.“ „Jedermanns Bruder also, Schuhu! Wer mag er nur sein?“ „Der Klein-Große, der Dick-Dünne, der Mit-Ohne-Bart, der genau ist es, der bei uns ein und aus geht.“ „Der ist es also, Schuhu. Man freut sich ja über jeden Besuch. Bei Manchem bei Kommen, bei Manchem beim Abschied, nicht wahr?“ Die alte Frau lächelte und sagte nichts mehr. „Schuhu, komm morgen wieder und bring einen leeren Schlauch mit.“, sagte die Eule und flog davon. Am nächsten Abend trat die alte Frau wieder aus ihrer Jurte, ging dahin, wo das Vieh zusammengetrieben worden war und wartete mit einer leeren Ziegenhaut auf die Eule. Als die Sonne ganz untergegangen war, kam sie schließlich geflogen. „Schuhu, Mütterchen, siehst du den Stein da? Nimm ihn und schlag die Eisdecke über dem Wasserloch ein, in dem ihr euer Vieh tränkt.“ Der Stein war schwer, doch gesagt, getan. „Schuhu! Nun fülle den Schlauch und nimm eine Hand voll Schlamm vom Grund. Den Schlamm mischst du in den Gerstenbrei zuhause und lässt ihn stehen. Wirst schon sehen, was daraus wird. Und in den Schlauch sollst du jeden Sommer den Saft der reifsten und besten Früchte füllen und ihn aufheben, bis der Sommer vorbei ist. Der Trunk aus diesem Schlauch wird jeden, der davon trinkt, mit der Wärme des Sommers erfüllen. Einer, der vorm Feuer dies hier trinkt, wird offenbaren, ob er nun klein oder groß ist, ob dick oder dünn, ob er einen Bart hat oder keinen. Er wird seinen wahren Bruder Bruder nennen und seine wahre Schwester Schwester. Nun geh zurück in dein Haus.“
Am Feuer schenkte die Frau allen von dem Wasser aus dem Schlauch ein. Doch wie sonderbar roch dieses Wasser! Es roch nach allen Früchten des Feldes, nach grünem Gras, nach Blumen, nach Honig und nach Harz von den Bäumen. Jeder, dem dieser betörende Duft in die Nase stieg, nahm einen tiefen Zug aus dem Becher. Und noch einen. Und noch einen. Eilig schenkte sie nach. Auch Jedermanns Bruder hatte sich am Feuer eingefunden und bereits gierig drei Becher geleert. je mehr er trank, desto mehr stieg die Wehmut in ihm auf. Bald erzählte er den Menschen am Feuer von seiner Geliebten und seiner immerwährenden Suche. Er beweinte sein Schicksal, klagte bitterlich darüber, wie er sich in silbernen Ketten auf rastlosen Reisen am Thron der Riasina plagen musste. Der Trank hatte alle Streitereien am Feuer verstummen lassen und es wurde immer stiller.
Bald begannen sich die Brüder und Schwestern am Feuer aneinander zu lehnen, denn die Glieder waren ihnen schwer geworden. Nur Jedermanns Bruder trank und redete und trank und redete weiter. Schließlich merkte er, wie still es geworden war, erhob sich und trat vor die Tür. Dort setzte er sich auf einen Stein. „Ein Bruder draußen allein in der Nacht. Warum nur, Schuhu?“, fragte eine Stimme. „Ach, geh doch weg! Was verstehst du schon,“ sagte er. „Drinnen ist ein warmes Feuer und alles schläft und träumt.“ „Weißt du wer ich bin? Die Nacht ist mir nicht fremd, die Kälte ist mir eigen. Alles war gut bis zu dieser Nacht. Nun zerreißt mich die Sehnsucht, wenn ich den Duft meiner Geliebten rieche, sie schmecke aber sie nicht sehen oder halten kann.“ So fuhr er fort, bis er schließlich alles gesagt hatte, müde wurde und sich nur noch unter dem Stein verkriechen und ausruhen wollte. Da lag er nun und die weise Eule griff ihn und trug ihn fort.
Das gefiederte Kalb
IT: Seit unbekannter Zeit von den Kindern Ischans und Natans mündlich überliefert, erstmals niedergeschrieben im Haus der Dämmerung Anfang des vierten Jahrzehnts.
OT: Von Sebastian
Einst verstarb die Mutter von drei Töchtern. Der Klugen vererbte sie den Hof, der Willensstarken die Herde und der Geduldigen die magische Spindel, deren Garn nicht endet. So gab sie jeder Tochter ihren Teil und eine jede war zufrieden. In vollem Glück lebten sie gemeinsam, bis auch das Leben ihres Vaters sich dem Ende näherte und er sie an sein Bett rief. Und wie er sie nun zum letzten Mal sah musste er weinen. „Weine nicht“, sagte die Willensstarke. „Denn auch nachdem du gestorben bist, werden deine Kinder und Kindeskinder deinen Namen kennen!“ Doch der Vater weinte nur noch mehr. „Warum weinst du denn?“ fragte die Kluge. „Was ist es, dass dir keine Ruhe gönnt?“ „Ach meine Töchter“, sagte der Vater, „Ich versprach eurer Mutter, das Geheimnis ihres wahren Schatzes zu bewahren. Doch wenn ich gestorben bin, wird niemand mehr davon wissen. Dies betrübt mein Herz.“ Nun verlangten die Kluge und die Willensstarke von ihrem Vater, ihnen vom wahren Schatz der Mutter zu berichten. Nur die Geduldige hielt seine Hand bis er starb. Und kurz vor seinem letzten Atemzug murmelte er ihr sonderbare Worte ins Ohr.
Nachdem die Bestattung sittsam verrichtet war, beschuldigte die willensstarke Tochter ihre geduldige Schwester, das Wissen über den Schatz der Mutter vom Vater offenbart bekommen zu haben und Streit brach aus, weil die eine auf dem Vorwurf beharrte und die andere ihn stur von sich wies. Wie das Glück im Haus abnahm, fasste die kluge Schwester sich ein Herz und sprach zuerst mit der Willensstarken. „Warum beschuldigst du unsere Schwester, den Schatz unserer Mutter zu verbergen?“ Fragte sie. „Weißt du es nicht mehr? Die letzten Worte unseres Vaters galten ihr. Aber sie verrät uns nicht, was er ihr sagte.“ Entgegnete die willensstarke Schwester. „Sie wird dir nichts davon sagen, weil du sie im Zorn gefragt hast.“ Sagte daraufhin die kluge Schwester. „Aber mir wird sie es sagen, wenn ich sie danach frage.“ So ging sie zur geduldigen Schwester. Anstatt sie nach den letzten Worten des Vaters zu fragen, wollte sie zunächst erfahren, wie denn der Streit begonnen hätte. „Unsere Schwester behauptet, Vater hätte mir mit seinen letzten Worten den Schatz verraten und dass ich ihn für mich allein behalten wolle. Das ist nicht wahr! Doch wo sie mich so frech beschuldigt, will ich ihr gar nichts davon sagen. Soll sie doch denken was sie will und an ihrem ungerechten Zorn ersticken, mir wird sie ohnehin nicht glauben.“ „Mir aber, wenn ich die Worte kenne.“ Sagte da die kluge Schwester. „Bedenke, wenn der Streit zwischen euch nicht endet, wird das über uns alle Unglück bringen. Da gab die geduldige Schwester nach und gab die Worte preis: „Es waren die verwirrten Worte der Seele, die schon auf dem Wege ist. Er sagte: Finde das gefiederte Kalb, das wie die Lerche singt.“ Als die kluge Schwester der Willensstarken nun davon berichtete, meinte diese, dass jenes Kalb der Schatz der Mutter sein müsse. Statt sich mit ihrer geduldigen Schwester zu versöhnen, gab sie die Herde ihrer klugen Schwester zur Aufsicht, nahm Bogen und Dolch und zog aus, das gefiederte Kalb zu suchen, das wie die Lerche singt. Der Streit war zwar nicht geschlichtet, wurde aber auch nicht fortgeführt. Also nahm das Glück der Drei wieder zu.
Lang wanderte sie durch die Welt und bestand viele Abenteuer, ohne das wundersame Tier jemals zu finden. Eines Tages, als die Schatten schon lang waren, kam sie zu einem hohen Berg. Obwohl sie ihn sogleich besteigen wollte, wurde sie plötzlich von einer jähen Müdigkeit erfasst. Nachdem ihr Wille mit ihrer Vernunft gerungen und die Vernunft gesiegt hatte, schlug sie ihr Lager auf um zu rasten und ihr Werk am nächsten Tag zu tun. Im Traum erschien ihr eine verschleierte Gestalt, die aber keine Fremde war. „Oh mein Kind“, sagte sie, „Welches Ziel verfolgst du nur?“ „Ich will den Schatz meiner Mutter finden!“ Gab die Tochter zu Antwort. „Wie willst du das anstellen?“ Fragte die Traumgestalt. „Ich fange das gefiederte Kalb, das wie die Lerche singt. Denn so sieht der Schatz meiner Mutter aus!“ Sagte die Tochter. „Und welchen Weg gehst du, um dieses geheimnisvolle Tier zu finden?“ Fragte die Traumgestalt. „Ich gehe den geraden Weg. Er führt mich auf den Gipfel dieses Berges!“ Sagte die Tochter entschlossen. Da seufzte die Traumgestalt und sprach: „Dann musst du diesen Weg gehen. Doch sei auf der Hut. Der Rücken dieses Berges ist von Gier bewaldet und in seinen Tälern fließt Verschwendung. Hier zeigen die Diebe die Wege, die von den Räubern angelegt wurden. Selbst wenn du nur den geraden Weg verfolgst mag es dennoch sein, dass du dein Ziel verlierst.“ Mit dieser Warnung brach sie am nächsten Morgen auf. Nach kurzer Zeit begegnete sie einem starken Mann der behauptete, ihr den Weg zeigen zu wollen. Doch die Schwester dachte sich: Verschweigt er die Gefahr, dann ist er ein Feind. Also kämpfte sie mit ihm und siegte, obwohl er viel stärker war. Sodann zwang sie ihn, ihr einen geraden Weg auf den Gipfel des Berges zu hauen. Als sie ihr Ziel schon halb erreicht hatte, begegneten sie einem wunderschönen Mann, der sie freundlich nach ihrem Weg fragte. Doch die Schwester dachte sich: Verschweige ich meine Absicht, so hindert er mich nicht. Also sagte sie ihm, dass er ihr schon folgen müsse, um ihren Weg zu kennen. Und obwohl er ihr den blumigsten Wein und die köstlichsten Speisen anbot, wiederstand sie der Versuchung, zu rasten. Kurz bevor sie den Gipfel des Berges erreicht hatten, erlahmte ihrem Knecht der Arm und er wollte seinen Dienst nicht länger tun, selbst wenn er geschlagen würde. Da hatte ihr Gefährte auch schon das Lager aufgeschlagen und den Wein und die Speisen bereitet. Da dachte die Schwester sich: Will ich mich nicht im Dickicht verstricken, muss ich darauf warten, dass mein Knecht wieder zu Kräften kommt und rasten. Ich selber aber will nichts von dem kosten, was mir im Wald der Gier angeboten wird. Doch während der Rast kam die Nacht und am nächsten Morgen erkannte die Schwester den Wald nicht mehr. Sie konnte sich nicht daran erinnern, welches der gerade Weg auf den Gipfel sein mochte. Sie wollte aber auch ihre Absicht nicht verraten. Daher konnte sie nicht nach der Richtung fragen. So gab sie sich dem Wein, den Speisen und den Männern hin und die Zeit verging und sie vergaß das gefiederte Kalb, das wie die Lerche singt.
Als drei Jahre nach dem Tod der Mutter vergangen waren und das Glück der beiden verbliebenen Schwestern wieder ab-, wieder zu und wieder abgenommen hatte, ohne dass ihre Schwester zurückgekehrt war, beschloss die Kluge, nach ihr zu suchen. Sie gab der Geduldigen die Aufsicht über den Hof und die Herde und zog in die Welt. Nach eiliger Suche erreichte sie den Berg, dessen Rücken von Gier bewaldet ist und in dessen Tälern Verschwendung fließt. Alle Diebe und Räuber dort hatte ihre Schwester sich inzwischen unterworfen. In der Hoffnung auf Beute führten sie die Kluge direkt zu ihrer Herrin. Die freute sich sehr über das Wiedersehen mit ihrer Schwester. Doch die kluge Schwester sagte: „Sag‘ mir wie es sein kann, dass du deine Schwestern und deine Herde und deine Suche nach dem Schatz unserer Mutter vergessen hast!“ „Meine Herde habe ich vergessen, aber ich erinnere mich jetzt. Und es kümmert mich nicht, denn ich habe jetzt größeren Reichtum. Meine Schwestern hatte ich vergessen, aber ich erinnerte mich dank dir. Und ich will es wiedergutmachen: Geh‘ und bringe unsere Schwester her und lebt mit mir, denn hier wird es uns an nichts fehlen. Das gefiederte Kalb habe ich vergessen, aber ich erinnere mich jetzt. Doch glaube ich nicht, dass mehr daran ist als die verwirrten Worte unseres Vaters, die er sprach, als seine Seele schon auf dem Weg gewesen ist.“ Da merkte die Kluge, dass sie ihre Schwester nur wirklich zurückbekommen würde, wenn sie das gefiederte Kalb fände. Also ging sie zum Schein auf das Angebot ein und bat um einen Knecht, der ihr den Weg zeigen sollte. Diesen aber wies sie an, sie zum Gipfel zu führen. Und als er diesen Dienst verrichtet hatte, schickte sie ihn fort. Auf dem Gipfel des Berges erblickte sie ein prachtvolles Haus. Doch ehe sie sich nähern konnte, wurde sie von rascher Müdigkeit übermannt und fiel in tiefen Schlummer. Im Traum erschien ihr eine verschleierte Gestalt, die aber kein Fremder war. „Oh mein Kind“, sagte sie. „Welches Ziel verfolgst du nur?“ „Ich will meine Schwester zurück!“ Gab die Tochter zu Antwort. „Wie willst du das anstellen?“ Fragte die Traumgestalt. „Ich fange das gefiederte Kalb, das wie die Lerche singt. Denn wenn wir uns den wahren Schatz unserer Mutter teilen, werden ihre falschen Reichtümer sie nicht mehr blenden!“ Sagte die Tochter. „Und welchen Weg gehst du, um dieses geheimnisvolle Tier zu finden?“ Fragte die Traumgestalt. „Ich gehe den schnellen Weg. Er führt mich hinter die Türen dieses Hauses!“ Sagte die Tochter entschlossen. Da seufzte die Traumgestalt und sprach: „Dann musst du diesen Weg gehen. Doch sei auf der Hut, denn hinter diesen Türen liegt die Schule, deren Dach mit Irrtümern gedeckt und deren Boden mit Fehlern gepflastert ist. Hier lehren die Blinden das Lesen und die Tauben den Gesang. Selbst wenn du nur den kurzen Weg verfolgst, mag es sein, dass du deinen Namen vergisst.“ Mit dieser Warnung brach sie am nächsten Morgen auf. Von fern sah sie zwei Dienerinnen mit geschorenen Köpfen, eine blind, die andere taub, wie sie das Tor bewachten. Mit lautlosen Schritten näherte sie sich. Sodann grüßte sie die Taube, die sie ja sehen konnte, ohne Stimme, indem sie nur ihre Lippen bewegte. Die fragte nun die Blinde, was die Fremde denn gesagt habe, doch jene gab mit Zeichen und Gebärden zur Antwort, nichts gehört zu haben und was für eine Fremde das denn sein solle. Da dachte die Taube, sie müsse einem Geist gegenüberstehen und sang einen Zauberspruch, um ihn zu binden. Die kluge Schwester merkte sich jeden Klang davon, doch als Wesen von Fleisch und Blut konnte sie damit nicht gebunden werden. Da fürchtete sich die Taube so sehr, dass sie es nicht wagte, ihr den Weg zu versperren.
Hinter den Mauern lebte sie lange Zeit unter den Blinden und Tauben. Sie mimte, zu ihnen zu gehören und lernte von ihnen: Von den Tauben den Gesang und von den Blinden die Schriften, bis sie Klang und Bedeutung vieler Namen erfahren hatte. Doch weil die Blinden nur Schriften lehrten die sie gelernt hatten, als sie noch sehen konnten und die Tauben nur Lieder lehrten die sie gelernt hatten, als sie noch hören konnten, war es unmöglich, von ihnen den wahren Namen des gefiederten Kalbs zu lernen.
Schließlich wagte sie es, den Geist des Hauses zu beschwören, um ihn nach dem wahren Namen des gefiederten Kalbes zu fragen. Der Geist des Hauses, das mit Fehlern gepflastert und mit Irrtümern gedeckt ist, gab der Schwester ohne Zögern Antwort auf ihre Frage und er sprach: „Ich kenne das gefiederte Kalb, das wie die Lerche singt. Sein Name ist verborgene Wahrheit, die in Schönheit wohnt. Es muss mit glühenden Kohlen gefüttert und mit Blut getränkt werden. Drei können es hüten, aber nur wenn zwei von ihnen tot sind. Es durchschaut alle Lügen, doch es ist davon gelangweilt. Es gleitet durch Worte wie ein Fisch durch das Wasser. Es gibt drei Wege es zu zähmen aber niemand kann diese Wege erlernen.“ Da grübelte und grübelte die Schwester über dieses Rätsel und konnte es nicht lösen. Ohne Unterlass suchte sie in den Schriften der Blinden und den Liedern der Tauben nach dem richtigen Hinweis. Und nach langer Zeit erfolgloser Mühen vergaß sie ihren Namen. Fortan hielt sie sich für eine Taube unter Tauben und eine Blinde unter Blinden und hielt die Schule auf dem Gipfel des Berges für ihr Heim.
Als drei Jahre nach dem Tod des Vaters vergangen waren und das Glück der verbliebenen Schwester wieder zu- und wieder abgenommen hatte, ohne dass ihre Schwestern zurückgekehrt waren, fand sie eines Mittags eine Lerche auf dem Zweig des Baumes, unter dem die Kälber Schatten suchen. Und zu ihrem Erstaunen ahmte die Lerche keinen Vogel, sondern eines der Kälber nach, welches sogleich antwortete. „Oh wie wunderbar!“ Sagte geduldige Schwester. „Du bist das Kalb, das wie die Lerche singt. Wenn du nun auch noch Federn hättest, hätte ich den letzten Wunsch meines Vaters erfüllt.“ „Wenn du willst, dass mir Federn wachsen“, antwortete das Kalb, „dann musst du mich mit glühenden Kohlen füttern und mit Blut tränken.“ Die Schwester gab dem Kalb was es verlangte und tatsächlich fraß es die Kohlen. Doch plötzlich war es ihr, als würde sie selbst die Glut auf der Zunge spüren. Da halfen weder Wasser noch Wein, die Schmerzen wollten erst enden, als das Kalb alles aufgefressen hatte. Und als es das Blut trank, schnürte sich der Schwester die Kehle zu und sie wurde von Mattigkeit und Schwindel erfasst. So sank sie hin und fiel in tiefen Schlummer. Im Traum erschienen ihr Mutter und Vater. Ihr Vater sprach: „Deine Schwester lebt im Wald der Gier und hat ihr Ziel verloren. Du musst sie retten und heimbringen. Dies soll dein Ziel sein, verliere es nicht!“ Ihre Mutter sprach: „Deine Schwester lebt unter dem Dach der Irrtümer und hat ihren Namen vergessen. Du musst sie retten und heimbringen. Daran soll dein Name gebunden sein, vergiss ihn nicht!“ „Wie soll ich das anstellen?“ Fragte die Tochter. Und sie sagten: „Beide suchten auf dem rechten Weg, aber nicht zur rechten Zeit. Doch sie werden gefunden werden von dem Tier, das sie nicht finden konnten so wie du es fandst, als du es nicht suchtest.“ Als sie erwachte hatte das Kalb, das wie die Lerche singt, ein prächtiges weißes Federkleid bekommen. Da wusste die Schwester, was sie zu tun hatte. Doch weil sie fürchtete, sie könnte auf dem Weg ihr Ziel verlieren und ihren Namen vergessen, knotete sie das Garn ihrer magischen Spindel an ihren Herd. Denn sie wusste, dass es nie enden und ihr stets den Weg nach Hause zeigen würde.
Auf verschlungenen Pfaden trabte das gefiederte Kalb so rasch davon, dass die geduldige Schwester kaum mit ihm Schritt halten konnte. Doch bevor es ihr endgültig entwischte, stach sie ihm die magische Spindel ins Federkleid. Dort blieb sie unablöslich hängen und spann ihr Garn von selbst, sodass die Schwester dem gefiederten Kalb stets auf der Spur blieb, indem sie dem Faden folgte. Sie fand es erst wieder an einem Feuer im Wald der Gier. Vorsichtig schlich sie sich heran und beobachtete heimlich aus der Dunkelheit, was dort vor sich ging. Am Feuer wärmte sich, einsam und verraten, ihre Schwester mit verschlissenen Kleidern und zerzaustem Haar. Sie saß zwischen zwei auf Stecken gespießten Köpfen und hatte soeben glühende Kohlen für das gefiederte Kalb aus ihrem Feuer geholt. „Wer waren die Zwei, mit deren Köpfen du dein Feuer teilst?“ Fragte das Kalb. Da berichtete die willensstarke Schwester. „Dieser war mein Knecht, der mich berauben wollte. Da schlug ich ihm den Kopf ab. Und jener war mein Gefährte, der mich bestehlen wollte. Da schlug ich ihm die Hand ab und als er verblutet war, nahm ich auch ihm den hübschen Kopf.“ Das Kalb blickte hin und her und überlegte. „Du, der Räuber und der Dieb, ihr sollt meine Hirten sein!“ So sprach es und fraß. Da brüllte die einsame Schwester vor Schmerz. Und als das gefiederte Kalb trank, da fiel sie in einen traumlosen Schlummer. Die Geduldige erinnerte sich gut an den Streit mit ihrer Schwester, der ohne Versöhnung geblieben war. Und weil sie sich vor dem wilden Anblick und den blutigen Trophäen fürchtete, wagte sie sich erst jetzt hervor. Sanft bettete sie ihre Schwester und flocht ihr das Haar.
„Was ist nur mit meiner Schwester geschehen?“ Fragte sie das gefiederte Kalb. „Sie glaubte, über Lügner und Betrüger zu herrschen. Aber sie wurde belogen und betrogen. Gestern dachte sie: Morgen hole ich mir meinen Reichtum zurück. Vorgestern dachte sie: Morgen nehme ich Rache an jenen, die meinem Zorn entgingen. Und am Tag davor dachte sie: Morgen kehre ich heim. So ergeht es jenen, die einen starken Willen, aber kein Ziel mehr haben. Sie wärmen sich jeden Tag an einer anderen Lüge. Heute glaubt deine Schwester, in mir den Schatz eurer Mutter gefunden zu haben. Und sie weiß nichts damit anzufangen. Sie wird mich hüten und denken, dass sie mich von Weide zu Weide treibt, so wie sie es einst gelernt hat. Dann wird sie zweifacher Lüge verfallen sein. Nicht sie treibt mich auf dem Pfad ihrer Wahl, ich locke sie auf meinen Pfad. Und es wird auch nicht der Schatz eurer Mutter sein, den sie hütet. Denn nicht zu sein, was ihr glaubt, dass ich bin, ist meine Natur.“ Dies sprach das Kalb. Da erbebte die geduldige Schwester und rief unter Tränen: „Grausam bist du! Für dich haben wir unsere Münder mit Asche und Glut und unsere Hände mit Blut gefüllt. Und wie dankst du es? Bekümmert dich das Unglück nicht, das du über meine Schwester bringst?“ „Nein.“ Sagte das Kalb ohne Bosheit. Da weinte die Geduldige die halbe Nacht und musste erkennen, dass das geheimnisvolle Tier ihre Schwester nicht freigeben würde, es gar nicht konnte, da ihre Mutter und ihr Vater und auch sie selbst sie an das gefiederte Kalb gefesselt hatten. So mühsam war ihr diese Erkenntnis, dass ihre Augen austrockneten wie Flüsse in der regenlosen Zeit. So flüsterte sie: „Der Pfad, auf den du meine Schwester lockst, wohin führt er dich?“ „Dahin, wohin der Mond mich ruft.“ Bekam sie zur Antwort. „Dahin werde ich dir folgen, bis du meine Schwester freigegeben hast.“ Versprach sie. „Das kannst du nicht.“ Wandte das Kalb ein. „Wir werden ja sehen.“ Sagte die Geduldige. Am nächsten Tag versteckte sie sich wieder vor ihrer Schwester und wartete ab, bis sie sich mit ihren abgeschlagenen Köpfen auf den Weg machte, das Kalb auf seinen Weiden zu hüten. Obwohl der Berg voller Diebe und Räuber war, wagte niemand, ihren Schatz zu begehren. Denn wenn ein gefiedertes Kalb von Dreien gehütet wird, von denen zwei tot sind, dann wird es unsichtbar. So kam die Willensstarke mit ihrem wundersamen Tier bis auf den Gipfel und ihre geduldige Schwester folgte ihnen unbemerkt am Garn ihrer magischen Spindel.
Die Wächter des Tores der Schule auf dem Gipfel des Berges sahen und hörten die Willensstarke schon von fern. Mit ihrem furchtlosen Gang, ihren abgeschlagenen Köpfen und ihrem geflochtenen Haar mussten sie sie für den Boten eines Feindes halten. Darum belegten sie sie mit Worten der Macht und warfen sie in den Kerker. Doch keinem Blinden und keinem Tauben offenbarte sie ihre Gründe noch ihre Absicht. Da war schließlich die Reihe an der klugen Schwester, der Fremden ihr Geheimnis zu entlocken. Die Willensstarke staunte nicht schlecht, als sie ihre Schwester erblickte und feststellen musste, dass sie nicht auf ihren Namen hörte und sich benahm, als spräche sie mit einer Unbekannten. So beschloss sie, der klugen Schwester nicht zu vertrauen und allen Fragen mit Schweigen zu begegnen. Nachdem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, ohne dass der Willensstarken ein Wort über die Lippen gekommen war und die Kluge sie endlich allein gelassen hatte, um es ein anderes Mal zu versuchen, fragte sie das gefiederte Kalb: „Was ist nur mit meiner Schwester geschehen?“ „So ergeht es den Klugen beim Versuch, unlösbare Rätsel zu ergründen. Sie müssen ihren Namen vergessen und wer seinen Namen vergessen hat, erkennt das eigene Blut nicht mehr. In ihrem unermüdlichen Streben, einen Weg zu deiner Befreiung zu erlernen, ist sie nun zu der geworden, die dich gefangen hält. Heute wird sie sogar noch größere Mühen auf sich nehmen als sonst. Denn obwohl ihr Geist dich nicht erkennt, hat dein Gesicht in ihrer Seele eine Erinnerung wachgerufen. Und weil sie auf Fehlern wandelt und Schutz unter Irrtümern sucht, muss sie es missverstehen. Statt dich zu erkennen und zu befreien will sie glauben, kurz vor der Lösung ihres Rätsels zu stehen.“ Erklärte das gefiederte Kalb. „Welches Rätsel plagt sie so sehr?“ Begehrte die Willensstarke zu wissen. „Das Rätsel meines unaussprechlichen Namens, der dennoch nicht verschwiegen werden kann.“ Bekam sie zur Antwort.
Und so geschah es, dass die Kluge tatsächlich einen Verdacht schöpfte. Obwohl sie das gefiederte Kalb nicht sehen konnte, erinnerte sie sich sehr gut an die Worte des Geistes der Schule. Als sie zum zweiten Mal in den Kerker ging, um mit der Gefangenen zu sprechen, nahm sie eine Schale glühender Kohlen und eine Schale Blut mit sich. Die stellte sie vor die Willensstarke hin und wartete wachsam ab, was geschehen möge. Das Kalb fraß und trank und die Kluge brüllte, aber nicht allein vor Schmerzen, sondern auch weil sie darüber frohlockte, der Lösung ihres Rätsels nahe gekommen zu sein wie nie zuvor. Daher webte sie, als sie Müdigkeit verspürte, nur umso rastloser ihr Zaubernetz um das gefiederte Kalb herum. Mit Hilfe aller Geister, die ihr im Himmel, auf der Erde und in der Unterwelt dienstbar waren, verlangte sie vom gefiederten Kalb, es möge ihr seinen wahren Namen preisgeben. So sprach das gefiederte Kalb: „Mein Name liegt in vollkommener Offenheit vor dir. Er ist ebenso alt, wie die Verbannung der Götter der Unterwelt schon andauert. Er verleiht Macht über alle Wesen außer mir selbst. Mich selbst aber lässt mein Name nur verschwinden. Denn ich gleite durch Worte wie ein Fisch durch das Wasser.“ Und mit dieser Antwort entschwand es.
In dem Moment, in dem das gefiederte Kalb in die unsichtbare Welt überging, wurde auch die geduldige Schwester unsichtbar und leise wie ein Windhauch. Denn sie berührte das Garn ihrer magischen Spindel und diese steckte ja noch immer im Federkleid des Kalbes, war also mit in die Geisterwelt entschwunden. Auf diese Weise gelang es ihr, an den Wächtern vorbei durch die Gänge der Schule bis in den Kerker zu gelangen. Dort fand sie ihre willensstarke Schwester zunächst allein vor, weil die Kluge sich, von Müdigkeit überwältigt, in ihre Kammer zurückgezogen hatte. Das Garn schien mitten in einer Kerkermauer zu enden, doch als die Geduldige genau hinsah, lauschte und fühlte, da meinte sie, die Lücken zwischen den Steinen wären gerade groß genug, um sich hindurchzwängen zu können. Als sie es bemerkte, hörte sie die Willensstarke nach dem Kalb rufen. „Wohin bist du gegangen? Ich fütterte dich, ich tränkte dich, ich hütete dich ohne Rast selbst noch im finsteren Kerker und wie dankst du es mir? Du bist kein geheimer Schatz, ein Fluch bist du!“ Rief sie. Die geduldige Schwester näherte sich dem Ohr der Willensstarken und flüsterte mit verstellter Stimme: „Nicht zu sein, was du glaubst, dass ich bin, ist meine Natur. Ich gehe dahin, wohin der Mond mich ruft. Dann erst offenbare ich meinen Segen. Warte geduldig, bis es soweit ist.“ „Ach, wenn nur meine geduldige Schwester hier wäre.“ Entgegnete die Willensstarke. „Sie wäre besser geeignet für die Aufgabe, die du mir stellst. Ich verließ sie vor Jahren im Streit. Aber nun wünschte ich, es sei für die Versöhnung nicht zu spät.“ „Wir werden ja sehen.“ Lächelte ihre Schwester. Da betrat die kluge Schwester zum dritten Mal den Kerker, um ihre Gefangene zu zwingen, ihr das Versteck des gefiederten Kalbes zu zeigen. Denn sie wusste und wollte nicht, dass sie das nicht konnte. Als die Willensstarke dabei zusah, wie die Kluge ihre Zaubermittel bereitete, packte sie das Grauen. So brüllte sie ihrer Schwester ins Gesicht: „Schläft denn deine Seele schon, während du noch am Leben bist? Erkennst du deine eigene Schwester nicht?“ Und sie sprach die Kluge mit ihrem Namen an und flehte, dass sie sich erinnern möge. Diese zögerte, antwortete dann jedoch: „Ich falle nicht auf deine List herein. Dein Flehen und Fluchen wird dir nichts nützen. Ich gebe dich erst frei von meinem Zwang, wenn du mir das Versteck des gefiederten Kalbes verraten hast.“ Nun erkannte die geduldige Schwester, dass auch die Kluge dem Bann des wundersamen Tiers verfallen war. Darum flüsterte sie auch ihr zu: „Nur der Mond kennt mein Versteck. Dorthin kannst du mir nicht folgen. Doch bist du nicht ausgezogen, um deine Schwester zurückzuholen nachdem sie sich einst auf die Suche nach dem wahren Schatz eurer Mutter machte? Warte nur noch ein wenig. Wenn ich mein Ziel erreicht habe, dann hast du auch deins erreicht.“ Als die Kluge verwirrt innehielt, verlor die Geduldige keine Zeit, band ihr magisches Garn um beide Schwestern und zwängte sich durch die Spalte und Fugen der Kerkermauer. So gelangte sie in die unsichtbare Welt, die ihr wie eine mondlose Nacht auf schwarzem Meer unter dem Sternenzelt erschien. Weiter und weiter folgte sie dem Faden hinein, bis sie ein weiß erstrahlendes Schlangenei enddeckte. Klein sah es von Weitem aus, doch als sie es erreicht hatte, da war es sieben Ellen hoch, ohne jede Erhebung oder Kerbe und schöner als alles andere auf der weiten Welt. Verzückt stand das Geheimnistier davor. Kaum noch ein Kalb konnte man es nennen, so sehr war es gewachsen. Eben gerade so groß wie das Ei, aber nur, wenn es sich zusammenrollte. „Wie bist du nur so groß geworden?“ Fragte die geduldige Schwester das Kalb. „Wer das Unbekannte erblickt, dem erscheint es immer groß.“ Sagte das Kalb. „Das habe ich erkannt. Doch obwohl du mich durch unbekannte, gar unsichtbare Lande geführt hast, entstammst du dennoch der Herde meiner Mutter. Dank mir hast du Federn. An das Garn meiner magischen Spindel bist du gebunden. Mit deiner Lerchenstimme sprach ich zu meinen Schwestern. Und ich habe den Ort gesehen, an den der Mond dich ruft. Ich kenne dich. Du bist verborgene Wahrheit, die in Schönheit wohnt und dein Name ist das Geheimnis.“ Dies sprach die geduldige Schwester. „Ja, so ist es.“ Sagte das Geheimnistier. „Dennoch muss ich gehen, denn in dem Ei verborgen ist meine wahre Herde. Darum biete ich dir diesen Handel an: Jetzt ist die Stunde, in der die Herrin des Wissens ein weiteres Geheimnis verschließt. In der Welt der Sterblichen verfinstert sich der Mond. Nur jetzt ist es möglich, eines wieder herauszuholen. Und unter meinen hundert und tausend Geschwistertieren ist auch der wahre Schatz deiner Mutter. Schneide dein Garn ab und zum Lohn zeige ich ihn dir, auf dass du ihn herausholen kannst.“ „Nicht diesen Handel will ich mit dir schließen. Mein Name ist an ein anderes Ziel gebunden. Zerschneide ich meinen Faden, muss ich für immer in der Geisterwelt bleiben. Was nützt mir selbst das schönste Geheimnis hier, am schönsten aller Orte? Ich will dich ziehen lassen. Im Austausch will ich nur eine Feder deines Kleides.“ Dies sprach die geduldige Schwester. „So ist es gesprochen und so soll es auch geschehen.“ Sagte das Geheimnistier.
So wandte die Geduldige sich ab von dem Ei und kehrte zu ihren Schwestern zurück. Sie sagte ihnen, dass der wahre Schatz ihrer Mutter die Gemeinschaft ihrer Töchter sei. Und weil die Geduldige eine Feder des Geheimnistiers im Haar trug, glaubten sie ihr. Also kehrten sie, nicht ohne Mühen und Gefahren, doch geleitet vom magischen Garn, nach Hause zurück. Dort erinnerten sie sich an glückliche gemeinsame Tage, versöhnten sich und ehrten Mutter und Vater. Die Willensstarke hatte nie mehr das Gefühl, eine große Herde zu besitzen. Nach all ihren Erlebnissen kam ihr Erbe ihr klein und bescheiden vor. Auch die Kluge musste für den Rest ihres Lebens von Zeit zu Zeit an ihren Namen erinnert werden und verirrte sich zuweilen gar in ihrem eigenen Hof. Und die Geduldige dachte, wann immer sie eine Blume sah oder die Vögel an einem Frühlingsmorgen hörte, dass diese Dinge sehr gewöhnlich waren, nur ein blasser Abglanz göttlicher Schönheit. Doch die Drei suchten sich gute Männer, hatten viele Kinder und lehrten sie, stark im Willen, klug im Handeln und geduldig in ihren Werken zu sein. Sie erzählten ihnen die Geschichte vom gefiederten Kalb und dem wahren Schatz ihrer Mutter. Nur einen kleinen Teil verschwiegen sie: Keiner der Drei kam jemals ein Wort vom Garn der magischen Spindel über die Lippen. So geriet es mit den Jahren in Vergessenheit.
Es mag sein, dass ihr Haus inzwischen verfallen und ihre Nachkommen über die weite Welt verstreut sind. Doch das Garn von der magischen Spindel ist noch immer fest verknotet an der Stelle, wo einst das Herdfeuer brannte. Es führt hinauf auf den Berg, dessen Rücken von Gier bewaldet ist und in dessen Tälern Verschwendung fließt. Auf verschlungenen Pfaden führt es bis zu seinem Gipfel. Scheinbar nur endet es im Kerker der Schule, die mit Fehlern gepflastert und mit Irrtümern gedeckt ist. Doch nur scheinbar: Tatsächlich aber geht es in die unsichtbare Welt über. Und von dort bis in den Himmel oder in die Unterwelt oder wo auch immer Riasina ihr Schlangenei verbergen mag. Jedes Mal, wenn Sie vom Himmel verschwindet um ein neues Geheimnistier darin zu verstecken, wird das Garn sichtbar für den, der geduldig genug ist um es zu sehen. Wer zudem über genügend Willenskraft und Klugheit verfügt, vermag ihm zu folgen um, wenn es dem Schicksal gefällt, der Göttin des Wissens ein Stück aus ihrer Herde abspenstig zu machen. Alles was dafür vonnöten ist, sind ein paar glühende Kohlen und ein wenig Blut.
Der glückliche Tagelöhner
IT: Seit unbekannter Zeit im Längstal von Arbon überliefert, niedergeschrieben auf Burg Bärenfels Ende des vierten Jahrzehnts.
OT: Ripoff einer Figurenerzählung aus Fruits Basket von Natsuki Takaya
Es war einmal ein Tagelöhner mit einem guten Herz, der frei war, wie er wollte, durch die Welt zu wandern. Wenn er hungernden Kindern begegnete, gab er ihnen aus seinem Brotbeutel, bis er nichts mehr hatte. Wenn er frierenden Greisen begegnete, gab er ihnen von seiner Kleidung, bis er nichts mehr hatte. So ging er nackt in den Wald und begegnete einem Troll. Die Bestie behauptete, zu frieren und zu hungern und weil der Tagelöhner kein Brot und keine Kleider mehr hatte, willigte er ein, dass der Troll ihn fressen und sich mit seiner Haut bekleiden dürfe. Jener zögerte nicht, fraß sein Fleisch und seine Innereien, bekleidete sich mit Haut und Haar und machte sich Schmuck aus Zähnen und Knochen. Das einzige, was vom Tagelöhner blieb, waren seine beiden glücklichen Augen. Hell und glücklich leuchteten sie, denn er war in dem Wissen gestorben, dass er anderen hatte helfen dürfen.
Die Alabasterne Urne
IT: Erstmals niedergeschrieben im ersten Jahrzehnt auf den Schulen des Ischan. Mündlich in verschiedenen Varianten seit unbekannter Zeit von den Kindern Ischans und Natans sowie vom Kleinen Volk überliefert. Da schon die Figuren der Danasonvita Kernelemente dieser Sage kennen, ist es inzwischen weitestgehend Gelehrtenkonsens, dass die Handlung erst während des Letzten Großen Stammeskrieges in die Epoche des Königreichs von Altgar verlegt wurde und die Urform verloren ist.
OT: Von Sebastian
In den goldenen Tagen, an der Grenze der Länder von Gar, wurde eines Tages die königliche Jagdgesellschaft so plötzlich von einem Gewitter überrascht, dass sich nicht einmal die Hirtenkinder aus den Grasmeeren daran erinnern konnten, so etwas schon erlebt zu haben. Jung und mutig wie sie war, entfernte sich Prinzessin Bahadur allein, weil sie eine Spur gefunden hatte, die von keinem bekannten Tier stammen konnte. Nachdem es ebenso plötzlich aufgeklart war, folgte sie der Fährte gegen den Wind bis hinunter zum Fluss, wo sie, verborgen im Dickicht, zwei herrliche Windhunde erblickte. Von nicht weniger als sieben Schritten Länge, mit Hufen statt Pfoten, saßen sie friedlich vor einem im Wurzelwerk gefangenen Boot.
„Nun müssen wir ihn verlassen, Bruder.“, sagte traurig der eine Hund.
„Aber wäre es nicht schön, wenn Sterbliche ihn fänden und vor Einsamkeit und Hunger, Durst und Kälte bewahrten?“, fügte er noch hinzu.
„Ja, das wäre es, Schwester. Diese müssten aber Nachsicht mit seiner Stummheit haben oder, besser noch, wissen, dass er nur sprechen kann, wenn jemand mit Güte im Herzen die alabasterne Urne für ihn offenhält.“, sagte daraufhin der andere.
„Besser nicht.“, gab der erste wieder zur Antwort. „Wer davon wüsste und Güte im Herzen hätte, würde am Ende noch den Fehler begehen, den Deckel in einem Raum mit Fenstern oder mit Kamin oder sogar unter offenem Himmel anzuheben. Oder sie könnte die Urne auch für eine zu lange Dauer geöffnet halten. Und dann würde der Tod ihn ereilen.“
„Da hast du wohl recht.“, sprach der zweite nun. „Aber unsere Sorge darf es nicht länger sein.“
Daraufhin breiteten die Hunde ihre unsichtbaren Flügel aus und flogen davon.
Neugierig schlich die Königstochter, die wohl verstanden hatte, dass sie keine geringeren als Donner und Blitz während ihrer Rast belauscht hatte, aus ihrem Versteck. Wer wohl in dem Boot liegen mochte, dass von einem unbekannten Schicksal in ihr Land getrieben worden war? Darin fand sie einen schönen, jungen Mann, auf dessen Brust eine alabasterne Urne ruhte. Vorsichtig nahm sie das schmucklose Gefäß an sich und noch vorsichtiger weckte sie den Schlafenden. Ohne Misstrauen hieß sie ihn willkommen, stellte sich als Bahadur, Tochter der Königin Banubar, vor und fragte, als er nicht antworten konnte, ob er Dasilaryn sei, der Sohn der Himmlischen Hunde. Und als er dankbar lächelnd nickte, gewährte sie ihm das Gastrecht und brachte ihn nach Gar.
Dasilaryn nannten ihn alle am Hofe, denn es schien der rechte Name für ihn zu sein, weil er zu Fuß kaum langsamer war als zu Pferd. Viele verehrten ihn, weil er große Taten im Krieg beging und niemand ihn mit dem Bogen, dem Speer oder dem Schwerte übertraf. Die meisten mochten ihn ob seiner Schönheit, wegen seines Benehmens, das von edler Erziehung zeugte, und weil er mit eigenen Worten niemals jemanden in seiner Rede unterbrach. Aber manchen war seine Gesellschaft auch lästig, da er selber nur mit Gesten sprach. Und einige wenige fürchteten ihn, jene nämlich, denen sein Schweigen die eigenen schlechten Gedanken offenbarte und denen der Neid im Bauche wohnt.
Nach einem Jahr, als man sich an seine Anwesenheit am Königshof gewöhnt hatte und er niemandes Erstaunen mehr weckte, wagte es die Königstochter, ihn heimlich in die tiefen Keller zu führen. Dort, in einem Raum ohne Fenster und ohne Kamin, erzählte sie ihm davon, wie sie ihn gefunden hatte und was die Himmlischen Hunde einander gesagt hatten. Sodann öffnete sie die alabasterne Urne. Nun, endlich, konnte Dasilaryn ihr berichten, was er von seinem Leben noch wusste.
„Ich habe den Namen meiner Mutter vergessen und weiß nichts mehr davon, woher ich stamme. Die Himmlischen Hunde waren mir Lehrer und Beschützer, bis meine letzte Prüfung zur Mannwerdung nahte. Ihre Herrin Casyrga erlegte mir auf, in einsamer Nacht ihre Wolkenherde zu hüten. Zunächst fiel mir nicht ein, wie es mir als Sterblichem nur gelingen könnte und fürchtete, ewig ein Junge bleiben zu müssen. Da lehrte mich die Dasilschwester, mit der Kraft des Donners, und der Dasilbruder, mit der Schönheit himmlischen Feuers zu singen. Doch in der Nacht, in der ich meine Stimme erklingen ließ, wie es mir gelehrt worden war, brauste die Sturmgöttin mit solcher Gewalt heran, dass mir schien, ihr Herz müsse zugleich von loderndem Zorn und rasender Liebesbegierde erfüllt sein. Im Schoß der Erde wollte ich mich vergraben, aber es gab kein Entkommen. Tief versenkte sie ihre Krallen in meiner Brust und riss mir die Seele heraus. Ehe ich aber sterben konnte, fingen die himmlischen Hunde meine Seele in einer alabasternen Urne ein. Dunkelheit umfing mich nun, bis meine Augen dein Gesicht erblickten.“
Von nun an trafen sich Bahadur und Dasilaryn heimlich, wann immer sie es vermochten. Denn sie wagten es nicht, jemandem das Geheimnis der alabasternen Urne preiszugeben. Niemals ließen sie den Deckel länger als eine Stunde in der Nacht geöffnet. Er sang für sie mit der Schönheit himmlischen Feuers, doch weil sie sich stets in fensterlosen Räumen ohne Kamin trafen, konnte seine Stimme nie die Kraft des Donners entfalten, sodass die Casyrga es nicht hören konnte.
Als die Königstochter ein Jahr später schwanger wurde, bat sie ihre Mutter, Dasilaryn heiraten zu dürfen. Diese aber wollte davon nichts wissen.
„Wenn der Sohn der Windhunde den Namen seiner Mutter nicht weiß, dann kann er auch kein Ahnenglück in unser Haus bringen!“, entschied sie. Und auch Densyn, dem Vater der Königstochter, gelang es nicht, Königin Banubar umzustimmen.
„Er ist ein guter Mann.“, sprach er im Vertrauen zu seiner Gattin. „Ein heldenhafter Mann, sagen Viele. Den Göttern hat es gefallen, ihm und unserer Tochter ein Kind zu schenken. Wie kannst du da sagen, dass er kein Ahnenglück in unser Haus gebracht hätte?“
Die Königin aber gab zur Antwort: „Bis heute mag er uns Glück gebracht haben. Doch ohne seine Vorfahren zu kennen, kann man nicht wissen, ob nicht hinter diesem Glück sich ein verhängnisvolles Schicksal verbirgt. Und ein Mann mag noch so heldenhaft sein, ohne seine Stimme kann er dennoch kein Heer führen. Darum kann unsere Tochter ihn nicht heiraten. Ich sehe aber, dass du ihn sehr liebgewonnen hast. Ich will ihm also sein Vaterrecht gewähren und vor allen den Gefährten der Thronfolgerin nennen.“
Und so wie die Königin es gesprochen hatte, so sollte es geschehen.
Die Königstochter gebar einen Sohn, der ebenso schön war, wie sein Vater und Allen Freude bereitete, weshalb man ihn Dsibay nannte. Nur die Neider am Hofe trübten das Glück im Hause. Denn der Junge blieb geschwisterlos. Obwohl es die Königin nach einer Enkeltochter verlangte, bestimmte sie keinen anderen Mann für Bahadur. Obwohl nach einigen kinderlosen Jahren die Stimmen lauter wurden, die Dasilaryns Vaterschaft bezweifelten und überhaupt in Frage stellten, ob ein stummer Mann wohl fruchtbar sein könne, hielt Königin Banubar es so, als bemerke sie nichts von alledem.
Gemäß der Sitte zog Dsibay schließlich, als er sieben Jahre zählte, mit Dasilaryn in die Wälder, um die Ischanskunst zu lernen. An dem Abend jedoch, an dem er von seinem Vater in die ersten Geheimnisse auf dem Weg zur Mannwerdung eingeweiht werden sollte, fanden die beiden in ihren Schlingen einen sonderbaren, felsgrauen Habicht vor. Diese ungewollte Beute konnte kein gutes Omen sein, weshalb sie sich wuschen, fasteten und zu den Ahnen beteten. In jener Nacht träumte Dasilaryn, dass der Habicht wieder lebendig würde, während er auf die Größe von drei Ochsen heranwuchs und mit der Stimme von achtundneunzig Weibern schrie:
„Einst riss ich dir die Seele heraus. Heute nehme ich dein Herz.“
Vom Zauber der Großen Harpye getroffen verlor Dasilaryn alle Kraft in den Gliedern und konnte nichts dagegen tun, dass sie seinen Sohn bei lebendigem Leibe fraß. Am Morgen, vom Grauen geweckt, ergriff er nur noch die leblosen Schultern seines Kindes.
Zurück in Gar fiel es den Neidern leicht, den Verdacht des Mordes an Dsibay auf seinen stummen Vater zu lenken. Königin Banubar traf, als sie davon hörte, der Schlag und sie starb. Nur ihre Tochter, die ihr am übernächsten Tag auf den Thron folgte, war voll und ganz von Dasilaryns Unschuld überzeugt, da sie als einzige mit ihm darüber sprechen konnte, was wirklich geschehen war. Vor Wut und Trauer erblindet kümmerte sie sich nicht um Rat, um Omen, den Willen der Mutter und den Segen ihres Vaters, sprach ihren Gefährten frei von aller Schuld und heiratete ihn noch bei Dsibays Bestattung. Ihr Vater Densyn aber ertrug es nicht und verfluchte den Mörder seines Enkels, anstatt die sittsamen Gebete zu sprechen. Weder an Unschuld, noch an die Schuld Dasilaryns glaubend, sprach er den Fluch gegen den unbekannten Täter, wer es auch immer gewesen sein mochte. Sodann verließ er den Hof und mit ihm gingen ein Drittel aller Helden und Würdenträger des Königreiches.
Als die junge Königin von Gar Trost bei ihrem Gatten suchte und die alabasterne Urne öffnete, da erklangen nur seine Klagen, Tränen und Verzweiflung, nicht sein himmlischer Gesang. Schon bald bat er sie, die Urne verschlossen zu halten, da er jedes Mal, wenn sie geöffnet wurde, von Neuem erleiden musste, wie sein Herz zerbrach. Weil Bahadur nun keinen Trost mehr finden konnte, pflegte sie ihr Haar und ihren Herd nicht mehr, so dass sich ein Schleier der Trübsal über den ganzen Hof legte.
Schlimmer aber erging es Densyn. In der Nacht, nachdem er seinen Fluch gesprochen hatte, bettete er sich zum Schlaf. Da setzte sich ein hässliches Scheusal auf seine Brust, schlug ihm ins Gesicht und auf die Hoden, schrie aber immerzu mit der Stimme seines Enkels: „Großvater, Großvater, warum hast du mich an die Rache gefesselt?“ In jeder folgenden Nacht suchte der böse Geist ihn fortan heim und es nützte nur wenig, dass er sich zuweilen zur Besinnungslosigkeit trank oder sich mit Opium benebelte oder dass er Kräuter gegen das Schlafen selbst einnahm. Nacht für Nacht holte ihn der Wahnsinn etwas mehr. Nach und nach begannen die Helden und Würdenträger, die ihm ins Exil gefolgt waren, ihn zu verlassen.
Eine lange Zeit verging, in der Königin Bahadur nach Mitteln und Wegen gegen den Zorn der Casyrga suchte. Doch niemand unter den Weisen und den Kundigen des Landes wusste Rat und selbst die Narren konnten dazu nichts sagen. So schickte sie Reiter in die Fremde, auf dass sie in fernen Landen Hilfe fänden. Schließlich kehrte einer von ihnen heim und berichtete der Königin, dass er weit weg die weise Hexe Batya gefunden hätte, von der man zu berichten wusste, dass sie einst einen Handel mit der Großen Harpye zu schließen fähig gewesen sei.
Erfüllt von neuer Hoffnung begab sie sich auf die Reise und gelangte schließlich in Batyas Haus. Es blieb ihr zwar keineswegs verborgen, dass die Hexe seit Jahren keinen Gast mehr gesehen haben konnte, aber dennoch wurde sie freundlich empfangen. Während die beiden Frauen den Herd segneten, wie es schon lange nicht mehr geschehen sein konnte, berichtete die Königin von ihren großen Sorgen:
„Casyrga hat meinen Gatten zur Stummheit verflucht. Er kann nur sprechen, wenn ich eine geheime, alabasterne Urne öffne, doch offen bleiben darf sie nicht zu lange, da ihn sonst der Tod ereilt. Deshalb darf ich sie auch nicht in einem Raum mit Fenstern und Kamin oder gar unter freiem Himmel verwenden. Casyrga hat meinen Sohn gefressen und trachtete danach, meinem Mann die Schuld dafür zuzuschieben. Als meine Mutter davon hörte, traf sie der Schlag und mein Vater verließ mich im Streit. Er lebt nun im Exil, wo er vor Einsamkeit langsam dem Wahnsinn verfällt, wie mir berichtet wurde. Mir ist es, als habe Casyrga all mein Glück geraubt und niemand weiß Rat. Daher frage ich dich, weise Hexe, was soll ich nur tun?“
Da fragte Batya, wie Königin Bahadur denn zu so einem sonderbaren Mann gekommen sei. Und die Königin gestand:
„Ich habe mich selbst mit ihm verheiratet, gegen den Willen von Mutter und Vater.“
Da seufzte die Hexe tief und sprach voller Bedauern: „So lang, wie dein Schicksal mit seinem verbunden bleibt, so lang raubt ihr Fluch dir und den Deinen das Glück. Alle Weisen, Kundigen und Narren in deinem Reich würden dir raten, wenn sie nur den Mut dazu besäßen, deinen Gatten zu verstoßen und der Großen Harpye zu sagen, sie solle mit ihm machen, was sie will. Dieses Opfer, so scheint es, wenn du es bringen könntest, würde dir erlauben, dein Glück von Neuem zu errichten.“
Wie die Königin da weinte und bat und bettelte wie nie zuvor, nickte Batya wissend und erklärte:
„Aber du kannst es nicht. Darum ist deine Liebe ebenso gut wie ein Fluch.“
Unter Tränen fragte da Bahadur:
„Nenne mir einen anderen Weg, Frau Batya, denn wenn es ihn gibt, dann kennst ihn nur du allein. Denn hast du nicht schon einmal einen Handel mit Casyrga geschlossen?“
„Mir ist verboten, über meine Bande zur Rachegöttin zu sprechen.“, entgegnete ihre Gastgeberin. „Nur so viel kann ich dir verraten: Mir, so wie dir, raubte sie dereinst den Sohn. Seitdem kann ich weder Haar noch Herd mehr pflegen. Es liegt ein Schleier der Trübsal über meinem Haus, der allen Rat zum Schweigen bringt.“
Nun schwiegen beide Frauen, bis Batya sich ans Feuer bettete und in den Schlaf sank. Bahadur aber entsann sich der Worte ihrer Mutter, die einst, als sie noch ein Kind gewesen war, ihr zu sagen pflegte: „Dich zu trösten hilft dir nicht zurück aufs Pferd. Doch dir zurück aufs Pferd zu helfen, wird dich trösten.“ Da kehrte sie die Asche zur Tür heraus, wischte den Staub vom Hausaltar, warf die verwelkten Blumen fort, holte neue ins Haus und rastete nicht, bis Batyas Heim wieder wohlgeordnet und von Reinheit duftete. Um die Hexe am nächsten Morgen nicht zu beschämen, bat sie sie, ihr das Haar zu waschen und zu flechten. Dies wolle sie gerne für ihren Gast tun, müsse danach aber das Gleiche auch erbitten, antwortete Batya. Da sagte die Königin, dass es so sein solle und lächelte insgeheim, denn so hatte sie es bezweckt. Und während sie später ihrer Gastgeberin die Zöpfe flocht, sprach diese:
„Heute Nacht träumte mir Sonderbares. Ein hässlicher Rachegeist kam zu meiner Türschwelle und bat mich mit Knabenstimme um Einlass. Obwohl mir nicht verborgen blieb, was für ein Wesen er war, gewährte ich es ohne Furcht. Und wie er beim Hausschrein ankam, hatte er sich in einen Jüngling verwandelt, das Gesicht meinem Sohn so ähnlich, dass ich für einen Moment davon getäuscht wurde. Als ich ihn fragte, wer er sei, konnte er seinen Namen nicht nennen. Aber er sprach:
‚Bitte, Batya, sage meiner Mutter, sie soll die Alabasterschnitzer von Anapat aufsuchen und ihnen das Geheimnis des Herzens entlocken. Denn ohne das Geheimnis des Herzens kann ich nicht befreit werden.‘
Dies versprach ich dem Jungen und fragte ihn, wer denn seine Mutter sei. ‚Die, der du die Zöpfe flichtst, wenn der Morgen graut.‘, gab er zur Antwort.“
Beunruhigt wollte Bahadur sogleich erfahren, was der Traum wohl zu bedeuten habe. Und Batya erklärte es:
„Dein Sohn hat keine Ruhe gefunden, weil er zum Rachegeist wurde. Zuweilen ergeht es Ahnengeistern so, wenn sie mit Unrecht beladen zur Unterwelt wandern und es nicht selber tilgen können. Seinen Namen kann er nicht sagen, weil er ihn nicht mehr besitzt. Zuweilen ergeht es Fluchbringern so, wenn ihr Name an Flüche gekettet wurde, die sie nicht überbringen können.“
Entsetzt berichtete da Bahadur von dem Fluch, den ihr Vater Densyn bei der Bestattung ihres Sohnes gegen den unbekannten Mörder ausgesprochen hatte.
„Dies ist des Rätsels Lösung.“, meinte Batya traurig. „Wer könnte auch die Königin der Flüche, die Mutter aller Rachegeister, mit einem Fluch belegen, ohne dass er mit aller Macht auf den Fluchenden zurückfällt?“
Inzwischen war Batyas Verdacht geweckt, das Schicksal ihres eigenen Sohnes möge mit dem von Bahadurs Sohn verbunden sein, sprach ihn jedoch nicht aus. Doch mit geflochtenem Haar und heimlicher Hoffnung sagte sie zu Bahadur:
„Nur Mut, mutige Königin! Dein Sohn weiß, wie er befreit werden kann. Du musst ins trockene Land Anapat, in dem kein Mensch und kein Tier lebt, das nur die Staubteufel ihre Heimat nennen. Wenn du mit ihnen sprichst, werden sie dir sagen können, wie du die Alabasterschnitzer findest. Für deine Reise gebe ich dir Natans Kupferkessel, der nie zur Neige geht. Wer daraus trinkt, den dürstet und hungert es nicht, der versteht alle Sprachen und spricht zu jedem mit vertrauter Stimme. Das trockene Land Anapat liegt hinter dem Meer, dessen Ende niemand kennt. Um es zu überqueren gebe ich dir das Allwasserpferd, das nie vom rechten Weg abkommt und alle Gewässer überwindet. Du musst allein dorthin, doch damit du nicht der Kälte erliegst, gebe ich dir den Mantel Immerwarm, den ich einst für die Tochter webte, die ich nie haben sollte.“
So machte Königin Bahadur sich auf die weite Reise. Wenn sie fror, wickelte sie sich in den Mantel Immerwarm. Als sie das Meer erreichte, dessen Ende niemand kennt, trug sie das Allwasserpferd hinüber. Auf der anderen Seite gelangte sie endlich ins trockene Land Anapat. Als Hunger und Durst sie plagten, trank sie aus Natans Kupferkessel. Nach sieben Tagen und sechs Nächten fand sie einen Reigen der Staubteufel.
„Ihr Staubteufel, ich grüße euch!“, rief die Königin, „Ich bin Bahadur, Tochter der Banubar, Königin von Gar. Ganz alleine trete ich vor euch, nicht um den Frieden in eurem Land zu stören, sondern um Rat zu erbitten. So sagt mir, wenn euer Gemüt mir wohlgesonnen ist, wo finde ich die Alabasterschnitzer?“
„Wir grüßen dich, Königin Bahadur!“, entgegneten die Staubteufel. „Glück hast du, denn wir versammeln uns zur Feier. Die Ballkönigin kommt um Mitternacht und tanzt in unserem Reigen. Und die Alabasterschnitzer spielen die Musik zu unserem Tanz. Du kannst hier auf sie warten, doch sei gewarnt – unser Hof duldet keine Sterblichen in seiner Mitte. Die Alabasterschnitzer sind wild und werden schnell zornig. Es ist besser, wenn du unter einem Felsen bleibst, bis wir alle ermatten und uns vom wilden Tanz erholen. Und was du auch tust, verberge dich vor der Ballkönigin, bis sie unser Fest wieder verlassen hat!“
Also versteckte Bahadur sich unter einem Felsen und wartete auf die Mitternacht. Als es soweit war, begann ein gewaltiges Brausen und Tosen in der Luft, die sich mit Sand, Staub und Kieselsteinen füllte, sodass die Königin ihr Gesicht verbarg. Kurz darauf leuchtete der Himmel so hell auf, dass sie die Augen schließen musste und als der Donner über das Land rollte, meinte sie, die Erde selbst müsse bersten.
Doch es war nur das Fest der Staubteufel und nach einer Weile erkannte sie die den Gesang, der mit der Schönheit des Himmlischen Feuers erklingt, wenngleich er nun auch die Kraft des Donners besaß. Und weil die Wirkung ihres letzten Tranks aus Natans Kupferkessel noch nicht verflogen war, verstand sie die Worte des Liedes, das nicht für die Ohren Sterblicher gemacht war. Denn zur Antwort auf Blitz und Donner sangen die Staubteufel im Chor:
„Dein Wort verkündet die Rache. Dein Tanz tötet Mensch und Tier und Fisch und Vogel. Du reißt die Bäume aus und wirfst die Schiffe um in deinem Spiel. Auf dem Grab der zänkischen Brüder erbautest du dein Nest, wo du mit den Vier Winden speist. Deine Untertanen sind wir und wir preisen dich und wir tanzen für dich, du, unsere Ballkönigin, oh große Casyrga!“
Bis zum Morgen dauerte die Feier der Sturmgöttin und erst, als der letzte Staubteufel sich im Wüstensand zur Ruhe gebettet hatte, wagte sich Bahadur hervor. Über ihr war kein Schatten und kein Harpyienflügel zu sehen, aber unweit des Felsens, unter dem sie sich versteckt hatte, fand sie die beiden schlafenden Windhunde, nicht weniger als sieben Schritte lang, mit Hufen anstatt Pfoten.
Erneut nahm sie einen tiefen Schluck aus Natans Kupferkessel und schlich sich zu dem einen der beiden. Leise sprach sie ihm mit vertrauter Stimme, dunkel wie fernes Donnergrollen, ins Ohr:
„Ein gutes Fest nenne ich es, wenn es uns so ermattet zurücklässt, Bruder! Aber ich hatte einen ganz sonderbaren Traum, der mich nicht mehr loslässt. Ich träumte davon, dass wir der Prinzessin Bahadur aus Gar eine alabasterne Urne überreichten. Aber wir vergaßen ihr zu sagen, wie sie den Mann retten sollte, dessen Seele darin war. Sage mir, was bedeutet das nur?“
„Lass mich schlafen und dann darüber nachdenken,“ sagte der Blitz und vergrub die Schnauze unter dem Vorderlauf.
Später, es war schon beinahe Abend, sah Bahadur Leben in die Glieder der Windhunde einkehren. Sie streckten und reckten und erhoben sich. Doch während der eine sprang, lief und hechelte, kratzte der andere sich nur hinterm Ohr und blickte dann zum Horizont.
„Was ist los, Bruder? Lass uns um die Wette laufen über den halben Himmel! Oder ein paar verirrte Wölkchen erschrecken! Oder lass uns das Glas aus dem Wüstensand ausgraben!“, rief der eine.
„Später, Schwester. Jetzt denke ich nach über deinen Traum.“, entgegnete der zweite.
„Welchen Traum?“, fragte da der erste.
Da berichtete der Blitz dem Donner, wie sie ihn geweckt und was sie gesagt hätte. Nun blickten beide Dasilim sich gegenseitig für einen langen Moment schweigend an und Bahadur hätte schwören können, selbst von ihrem Versteck aus gesehen zu haben, wie beider Lefzen schließlich ein gütiges Lächeln annahmen.
„Ich erinnere mich zwar nicht mehr an den Traum,“ sagte die Dasilschwester, „aber, wenn ich dir im Halbschlaf davon erzählt habe, muss ich ihn wohl geträumt haben. Doch kommt mir jetzt nichts davon mehr rätselhaft vor. Denn schließlich schulden wir Casyrga Treue und dürften Bahadur nichts darüber berichten, wie Batyas Sohn zu retten ist.“
„Da hast du natürlich recht,“ sagte der Dasilbruder, „trotzdem denke ich zuweilen an ihn, der uns wie ein Sohn gewesen ist. Und ich frage mich, ob die Frau, in deren Obhut wir ihn gaben, nicht Milderung ihres Unglücks verdient hat.“
„Sie hätte ihn im Boot am Fluss lassen können. Sie hätte kein Kind von ihm bekommen müssen. Und wir haben ihr nicht gesagt, dass sie ihn gegen der Eltern Willen und ohne den Segen seiner Mutter heiraten soll. Sieh dir nur an, was mit ihrem Herzen geschehen ist! Es ist schon fast gänzlich umschlossen von der alabasternen Urne, in der die Seele ihres Mannes wohnt. Zu keiner Vaterliebe ist es mehr fähig und kaum noch zur königlichen Pflicht. Zu trauern um den Sohn und die Mutter vermag es beinahe nicht mehr.“
„Aber, Schwester, fragst du dich nicht doch zuweilen, was du ihr raten würdest, wenn du dürftest?“
„Gewiss, Bruder. Ich würde ihr raten, hierher zu kommen, ins trockene Land Anapat. Ich würde ihr raten, zwischen den Staubteufeln zu liegen, bis ihr Herz kaum noch schlägt. Ich würde ihr verraten, dass unsere Spatel und Hämmer und all unser Werkzeug in der Mitte von Casyrgas Tanzplatz versteckt ist, drei Ellen tief im Sand. Wenn ihr Herz kaum noch schlägt, könnte sie damit die Urne in ihrer Brust zertrümmern.“
„Aber Schwester, bedenke doch, dass Batyas Sohn nach vierzehn Tagen sterben müsste, wenn die Urne zertrümmert ist. Wohlmöglich früher, denn sobald er singt, hört unsere Herrin das und holt ihn sich!“
„Nicht, wenn Casyrga schläft. Bahadur könnte unserer Herrin die gemahlenen Scherben der alabasternen Urne mit Salz und Staub im gläsernen Wüstenkeil darreichen. Hat sie nur lange genug zwischen den Staubteufeln gelegen, wird die Sturmgöttin sie nicht als Mensch erkennen, sondern nur für einen weiteren Diener halten. Tränke sie beim nächsten Fest vom dargebotenen Trank, würde sie für vierzehn Tage und Nächte schlafen. Stell dir nur vor, was Batyas Sohn in diesen vierzehn Tagen, da seine Seele wieder frei ist, alles tun könnte!“
„Das würde Bahadur nicht tun. Sie müsste hinnehmen, dass ihr Mann wohl nach vierzehn Tagen stirbt. Sie müsste darauf vertrauen, dass er einen Weg findet, seinen Sohn zu befreien, ihren Vater zu heilen und sich selbst zu retten. Sie würde nichts tun können, um ihm zu helfen und müsste sich auf einen Mann verlassen, dessen wahren Namen sie nicht einmal kennt. Vor allem aber müsste sie bereit sein, die alabasterne Urne aufzugeben.“
„Vielleicht nicht, Bruder. Ich würde ihr gewiss sagen, dass es der einzige Weg ist, ihr Königreich zu retten. Wir müssen wohl hinnehmen, dass Batyas Sohn und seine Mutter und Bahadur und das ganze Reich von Gar dem Unglück anheimfallen werden. Nun lass uns am Himmel um die Wette laufen. Bis zum nächsten Fest haben wir noch zwei Wochen Zeit.“
Da breiteten die Dasilim ihre Flügel aus und verschwanden.
Am ersten Tag konnte Bahadur noch nicht an die Werkzeuge der Alabasterschnitzer denken. Als sie müde wurde, legte sie sich zwischen die Staubteufel und als sie erwachte, trank sie nur sehr wenig. Am dritten Tag wagte sie sich bis zur Mitte des Tanzplatzes, doch ehe sie zu graben begann, schlug ihr das Herz bis zum Halse und sie legte sich wieder zwischen die Staubteufel. Am siebten Tag nahm sie all ihren Mut zusammen und grub Hammer, Spatel, Messer, Zange und Feile aus. Sie brachte die Werkzeuge in ihr Versteck unter dem Stein und schüttete die drei Ellen tiefe Grube im Sand wieder zu. Als sie dieses Werk getan hatte, vergoss sie dreihundertunddreiundvierzig Tränen, bis sie sich völlig erschöpft zwischen die Staubteufel legte und sieben Tage schlief, bis ihr Herz kaum noch schlug.
Ein aufgeregtes Flüstern im sandigen Bett der Staubteufel weckte sie. Die Sturmgöttin wurde erneut zum Fest erwartet. Bahadurs Müdigkeit war jenseits dessen, was Schlaf tilgen und ihr Durst größer, als Trank löschen kann. Leicht wie eine Feder fühlte sie sich, als sie sich erhob und ihr Herzschlag war nicht zu hören. Als die Staubteufel sie Schwester nannten, da glaubte sie, gestorben zu sein.
„Nie hätte ich gedacht, dass meine Seele einst an diesen fremden Ort wandern würde, anstatt zu den Ahnen zu gehen.“, dachte sie. „Als ich noch jung war, hätte mich diese Vorstellung fürchterlich entsetzt. Doch jetzt, da es soweit ist, sehe ich keinen Grund zur Klage. Warum soll es ein schlechtes Schicksal sein, hier für eine Göttin zu tanzen, zu der Musik, die ich einst so begehrte, und mich danach wieder zur Ruhe zu betten. Lebenden mag Anapat als einsames Land erscheinen, doch ich sehe hier hundert und tausend Gefährten.“
Als sie jedoch das Kleid aus warmem Wind und Wüstensand anlegen wollte, fiel ihr Blick auf die Werkzeuge der Alabasterschnitzer. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, wer sie war, aus welchem Grund sie hergekommen war und was sie tun wollte.
„Nun soll ich scheitern? Ich, die kein Gewitter fürchtet und keine lächelnden Lügner im eigenen Haus? Ich, die ich Meer und Wüste durchwanderte? Ich, die das Geheimnis des eigenen Herzens ergründet habe, soll an der Befreiung meines Herzens scheitern? Ich bin Bahadur, die schon als Kind ‚die Mutige‘ genannt wurde und meine Geschichte wird hier nicht enden!“
Mit diesem Gedanken stieß sie sich das Messer in die Brust, ohne Schmerzen zu fühlen und ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Sie legte ihr Herz frei und fand es von der wohlbekannten Urne fast gänzlich umschlossen.
Mit Hammer und Spatel zertrümmerte sie den Alabaster zu kleinen Scherben, die sie alle sorgsam mit Zange und Feile herauszog, bis nichts mehr davon in ihr war. Sodann zerrieb sie sie an der Stelle, an der sie ihre Tränen vergossen hatte, mischte sie mit Salz und Staub, füllte alles in einen gläsernen Keil, und legte schließlich das Kleid aus warmem Wind und Wüstensand an, um der Sturmgöttin aufzuwarten.
Tatsächlich erkannte die Große Harpyie nicht, dass sich eine Sterbliche unter ihren Dienern verbarg. Sofern die Himmlischen Hunde es ahnten, so behielten sie es für sich. Und tatsächlich, als Casyrga am Ende des Festes von Bahadurs Trank kostete, fiel sie sogleich in tiefen, traumlosen Schlummer.
In Gar verspürte Dasilaryn nicht sofort, wie die alabasterne Urne zersprang. Am Morgen war ein Bote mit Nachricht für die Königin erschienen und hatte sie stattdessen der Herdmutter überbracht. Bis zum Mittag sprach sich herum, dass es schlechte Kunde war. Weil aber niemand auf den Gedanken kam, dem stummen Königingemahl davon zu erzählen, verlangte er schließlich am Nachmittag mit erhabener Stimme, ihm den Gast vorzuführen. Obgleich er selbst nicht weniger erstaunt darüber war, seine Worte in der Halle widerhallen zu hören, als all die Würdenträger und Diener um ihn herum, duldete er keine Verzögerung. So berichtete der Bote, was zu berichten war:
„Ich diene König Densyn“, sprach er, „doch mein Herr will mich nicht länger an seiner Seite haben. Mit bösen Worten, aus denen Irrsinn spricht, hat er alle vertrieben, die ihn lieben. Sein Ohr leiht er nur noch der falschen Bannerfrau seiner neuen Leibwache aus Räubern. In seinem Namen tätigt sie schändliche Geschäfte und ihr Banner aus Verbrechern hat alle ermordet, die sich ihren schlechten Absichten nicht fügen wollen. Mir allein glückte die Flucht in mondloser Nacht.“
Sogleich wappnete sich Dasilaryn für den Aufbruch und ließ sich von dem Boten zu den Jurten des Königinvaters bringen. Heimlich schlich er sich ins Lager und fand Densyn alleine, beschmutzt, in Lumpen und völlig abgemagert vor, schlaflos Unsinn stammelnd. Da brauste der Sohn der Windhunde auf, schlug alle verräterischen Diener, räuberischen Reiter und zuletzt die falsche Bannerfrau tot. Schließlich wusch er Densyn, schnitt ihm Haar und Bart, kleidete ihn in edle Gewänder und gürtete ihn mit königlichem Schwert. Dieser, zunächst gänzlich teilnahmslos, erkannte nun seinen Schwiegersohn, erinnerte sich, wie ihm geschehen war und weinte in den Armen seines Retters.
Bis zur ersten Rast ihres Heimritts schwiegen die beiden Männer, der Sohn ohne Vater und der Vater ohne Sohn. Endlich aber konnte Densyn davon erzählen, wie der Geist des gemordeten Enkelsohns seine Träume heimsuchte und ihn in den Wahnsinn trieb.
Da brach aus Dasilaryn heraus: „Du musst wissen, dass ich meinen Sohn nicht getötet habe. Wissen musst du, warum ich früher darüber nicht sprechen konnte. Wie er zu Tode kam und warum ich ihn nicht retten konnte."
So erzählte er alles, was er auch Bahadur erzählt hatte, bis hin zu der schrecklichen Erinnerung daran, wie Dsibay von der Casyrga bei lebendigem Leib verschlungen worden war.
„Wie ein Fisch trauerte ich trostlos. Bis ich träumte, ich sei ein Vogel unter alabasternem Dach. Plötzlich zersprang es und eröffnete mir den klaren, weiten Sternenhimmel. Doch statt die Flügel auszubreiten, sah ich mich um und erblickte einen schlafenden Menschen, in dem ich mich selbst erkannte und bei dem ich noch verweilen wollte.
Nachdem ich schließlich erwachte, begannen hundert Erkenntnisse und tausend Erinnerungen in mir aufzuleuchten. Dann, endlich, fand ich meine Stimme wieder und kann dir nun sagen, wer ich wirklich bin.
>br>Ich stamme von Ahnen ab, die meine Mutter nicht mehr kennt, weil ihre Lippen mit Eisen verschlossen wurden. Die Verderbnis, derer sie sich schuldig machten, wurde dem Vergessen übereignet. Einzig Casyrga, die meine Mutter an Kindes statt zu sich nahm, könnte davon berichten, wird aber für alle Zeit darüber schweigen.
Ich erinnere mich, ohne andere Menschen im Haus meiner Mutter aufgewachsen zu sein. Sie, ihre Tiere und ihre Geister waren meine einzige Gesellschaft. Als sie zur Frau wurde und verstand, dass all ihre Kinder der Rachegöttin gehören würden, wollte sie mir keine Geschwister zur Seite stellen. Und wenngleich sie mich sehr liebte, gab sie mich dennoch, als ich lernen musste, was ein Mann lernen muss, in die Obhut der Großen Harpyie. Ihre Hunde unterwiesen mich in der Jagd, der Kräuterkunde und den Künsten des Krieges, sie selbst lehrte mich das Recht, die Sitten und die weisen Worte. So wuchs ich heran und hatte schließlich alles gelernt, was Männer lernen müssen. Ein Held könnte ich werden, dachte ich, bis die letzte Prüfung zur Mannwerdung nahte.“
Als sein Schwiegersohn geendet hatte, ergriff Densin blutenden Herzens und mit belegter Zunge das Wort:
„Nun wird mir offenbart, dass sich schon vor deiner Geburt unsere Schicksale verbanden. Als ich noch ein junger Reiter im Dienste der damaligen Königin war, erhielt ich Befehl, die letzten Flüchtigen einer Sippe zu finden, die so verdorben war, dass ihr Angedenken gänzlich getilgt werden musste. Ich fand und tötete ohne Gnade alle, sogar eine Mutter, die gerade erst entbunden hatte. Ohne mich zu fragen, ob denn nicht wenigstens ihre neugeborene Tochter, unter neuem Namen, das Leben verdient hätte, warf ich sie über eine Klippe. Ich staunte nur kurz, als ein adlergroßer, eisengrauer Habicht den Säugling noch im Herabstürzen ergriff und forttrug. Ich sagte mir, dass das sonderbare Tier das Mädchen gewiss fressen würde. Also kehrte ich heim und meldete die Erfüllung meiner Pflicht.
In den Jahren danach machte mir es das Leben leicht, nicht mehr daran zu denken. Zum Lohn für meine Treue bekam ich die Hand der erstgeborenen Prinzessin, legte die Grausamkeit der Jugend ab, bekam eine furchtlose Tochter und lebte mühelos, als wäre ich ein tugendhafter Mann. Jetzt aber verstehe ich, dass es deine Mutter war, die ich damals über die Klippe warf und keine andere als die Rachegöttin selbst sie rettete, um schließlich dich zur Strafe des Königshauses zu machen und deinen Sohn zum Rachegeist."
Die Asche war schon kalt geworden, da sagte zum Sohn ohne Vater der Vater ohne Sohn:
„Besser wäre es gewesen, wenn deine Seele zu den Sternen aufgebrochen wäre und du mich der Vollstreckung durch Siechtum und Wahn überlassen hättest. Wir sollten es beenden. Verflucht sind wir, nichts als Unglück zu bringen ist unser Schicksal.“
Bis zur Dämmerung verharrte Dasilaryn regungslos. Doch als der Tag die Nacht berührte, rief er zum Himmel:
„Nicht den Sohn der Rache, den Sohn der Windhunde nennt man mich. Der Sturm riss mir die Seele aus dem Leib, fraß mein Herz, raubte mein Glück und machte mich stumm. Aber dennoch lebe ich! Aber dennoch spreche ich! Meine Geschichte wird nicht an einem verloschenen Lagerfeuer enden. Mein Sohn ist zum Rachegeist geworden? Ich fordere ihn zurück! Ich gehe bis zum Berg des Todes und erklimme seinen Gipfel, ich bahne mir den Weg durch Heerscharen von Nebelgeistern, stoße das Tor der Vier Winde auf und hole mir mein Kind aus Casyrgas Nest! Ich fordere ihn zurück! Mit der Kraft des Donners und der Schönheit himmlischen Feuers fordere ich ihn zurück!"
Da erkannte auch Densyn, dass er nicht gerettet worden war, um einsam an seiner Schuld zugrunde zu gehen. So machten sie wieder kehrt und begaben sich auf schnellstem Weg zum Dugor Harog. In Sichtweite der schneebedeckten Gipfel, wo alle Reisenden ihre Pferde zurücklassen müssen, gebot Dasilaryn der Wolkenherde, wie er es einst von den Himmlischen Hunden gelernt hatte, einen raschen Marsch hinauf. Im Schutze der Nacht wurden sie von ihr durch das Tor der Vier Winde getragen, noch ehe Casyrgas Schlummer verflogen war. Als ob sich keine Göttin und kein Gott die Frage stellte, was all die Nebelgeister hier ohne Hirtin oder Hütehunde täten oder was sie mit sich brächten, gelangten die beiden Männer bis zum Harpyiennest.
Viele schlafende Rachegeister fanden sie dort vor. Mit friedlich erscheinenden Gesichtern von Menschen, Tieren, Fischen und Vögeln, Jungen und Alten, allesamt schrecklich befiedert mit schwarzem Eisen, verharrten sie regungslos. Nur ein Einziger von ihnen saß mit beschattetem Antlitz aufrecht, blickte in die Ferne und hielt zärtlich Dsibay in seinen Armen. Vorsichtig wollte Dasilaryn den Jungen an sich nehmen, da erklang eine helle, kindliche Stimme, die fragte:
„Glaubst du wirklich, du bekommst deinen Sohn dadurch zurück, dass du einen Rachegeist aus diesem Nest stiehlst?“
In der Erwartung, sogleich tosende Winde zu hören, hielt er inne. Doch als nichts geschah, antwortete er:
„Wie kann ich stehlen, was mir gehört? Ihn mitzunehmen ist mein Vaterrecht!“
Noch immer wendete das Wesen den Blick nicht vom Horizont ab, als es sprach:
„Das Vaterrecht gibt es nicht, welches es Sterblichen erlaubt, Tote ins Leben zurückzuholen.“
„Versuche nicht, mich aufzuhalten!“, rief flehend fast Dasilaryn. „Sieh nur, noch sind die Pforten der Vier Winde geöffnet. Keine Unsterblichen sahen uns kommen, noch ist unentdeckte Flucht uns möglich. Komm lieber mit uns und lasse dich von Casyrgas Knechtschaft befreien!“
Da leuchteten die ersten Sonnenstrahlen auf, das Wesen streifte das schwarze Federkleid ab und erst jetzt erkannte der Sohn der Windhunde, mit wem er hier sprach.
Und Es sprach:
„Ihr kamt nicht unentdeckt, denn nicht ihr Knecht, sondern ihr Herr bin ich! Nicht um eine einzige Seele werdet ihr das Heer der Fluchbringer verringern!“
So sprach Das Kind Des Morgens Und Des Abends.
Dies war der Morgen, an dem die Casyrga im trockenen Land Anapat aus ihrem vierzehntägigen Schlaf erwachte. Mit der Unruhe ihrer Brut im Herzen, breitete sie ihre Flügel aus, um sich eiligen Flugs zum Berg des Todes zu begeben. Unterdessen ließ Dasilaryn, umgeben von erwachenden Rachegeistern, alle Weisheit fahren. Unter Tränen der Verzweiflung griff er nach Dsibay, als ob er ihn dem Göttlichen Richter mit schierer Armeskraft entreißen könnte, was den Unsterblichen nicht einmal zu einer noch so kleinen Geste des Widerstands veranlasste. Denn schon hinter dem Tor der Vier Winde beginnt die Unterwelt; hier können Lebende niemanden mehr berühren.
„Lass mich Dsibays Platz einnehmen!“, rief da entschlossen König Densyn. „Ich diene der Rache, seit ich ein Mann und Reiter bin. Ich brachte den Verfluchten gnadenlosen Tod, verhängnisvolles Schicksal über meine Gattin, meine Tochter und mich selbst, Elend über mein Gefolge und mein Land. Wenn ich nun auch im Tode zum Unglücksbringer werde, so ist es nur gerecht. Mein unbedachter Fluch verwandelte meinen Enkel in einen Rachegeist. Lass mich seinen Platz einnehmen und Casyrgas Heer soll nicht um eine einzige Seele verringert sein!“
Mit diesen Worten stürzte sich König Densyn in sein Schwert, wurde zum Geist und nahm Dsibay in seine Arme. Mit jedem Schritt, den er auf das Tor der Vier Winde zuging, verlor der Enkel eine Feder und der Großvater bekam eine, so dass der eine an der Schwelle zum Land der Lebenden wieder ein Knabe, der andere ganz zur Harpyiengestalt geworden war. Noch war die Rachegöttin nicht heran und auch ihre Brut blickte nur neugierig auf ihren neuen Bruder, ohne das Geschehen zu verwehren.
Da rief Dasilaryn erneut mit seinem himmlischen Gesang die Wolkenherde herbei, sie den letzten Schritt ins Land der Lebenden zu tragen. Mit einem letzten Gruß an den Schwiegervater stieg er in den Dugor Harog hinab und war mit seinem Sohn im dichten Nebel verschwunden.
Casyrga, die dem Tausch nicht zugestimmt hatte, verfolgte die beiden und riss zornig an den Bergrücken. Doch als sie ihren Hunden befahl, die Herde auseinanderzutreiben, weigerten sie sich.
„Warum sollen wir verhindern, was dein Herr hat geschehen lassen? Warum sollen wir helfen den, den wir gemeinsam zum Mann erzogen, in Stücke zu reißen, obwohl sein Schicksal schon erfüllt ist?“, fragten die Dasilim.
Da erst erkannte die Casyrga ihr Werk als vollendet an und beschloss, das Übrige der Gnade ihrer Mutter zu überlassen.
Das Allwasserpferd brachte Bahadur zurück zu Batyas Haus, wo die Hexe sie bereits erwartete. Die Königin legte ihre Wange in die Hand der Älteren, nannte sie Mutter und sie küssten sich.
„Casyrga hat mich besucht.“, sagte Batya ihr. „Doch ehe ich dir davon berichte, was sie mir sagte, muss ich dir erzählen, was zu erzählen mir zuvor verboten war. Von dem Band des Schicksals, dass die Herrin der Stürme und mich an einander bindet.“
So gingen sie in die Stube und beim Tee begann die alte Frau, ihre Geschichte zu erzählen:
„Je jünger ich war, desto öfter sahen wir uns, denn sie nahm mich als ihr Kind an, nachdem die Lippen meiner Ahnen mit Eisen verschlossen wurden. Sie gab mir Garten, Haus und Herde, aber keinen Mann. Erst, als ich trotzdem schwanger wurde, sagte sie mir, warum ich allein gerettet worden war und was das Schicksal meines Sohnes sein würde.
‚Der Königin von Gar wurde vom Schicksal befohlen, das Angedenken deiner Sippe auszulöschen. Aufgrund der Natur ihres Gemüts kam sie dem gerne nach. Sich vor allen Racheflüchen gefeit dünkend gab sie Befehl, alle zu finden und ohne Gnade umzubringen, bis hin zum letzten Sklaven und zum letzten Kind. Aber sie täuschte sich, denn auch deren Leben zu nehmen, die nichts zu überliefern wissen, war eine Übertretung. Damit ereilte sie ein einziger Fluch dennoch. Dies war der Fluch deiner Mutter, Batya. Der, auf den sie ihren letzten Atem verwendete. Als sie mit brechenden Augen sah, wie ein Reiter der Königin ihre neugeborene Tochter über eine Klippe warf. Dieser Fluch rief mich herbei und rettete dein Leben. Dein Blut ist, wie ich, an seine Erfüllung gebunden. Er lautet: Die Linien beider, des Reiters und der Königin, mögen tragisch enden. Die Hoffnungen ihrer Nachkommen mögen unter der Schuld ihrer Vorfahren begraben werden. Elend möge ihr Erbe heimsuchen. So lautet der Fluch. Mit meiner Hilfe muss ihn nun der Sohn, dem du das Leben schenken wirst, erfüllen.‘ So sagte mir die Göttin der Rache.
Du siehst, dass ich die Wahrheit sprach, als ich dir sagte, dass deine Liebe zu meinem Sohn ebenso gut ist wie ein Fluch.“
Ruhig und nachdenklich widersprach die Königin:
„Nicht meine Liebe ist der Fluch, sondern mein Verlangen. Aber mit der Zerstörung des Kerkers seiner Seele befreite ich auch mein Herz davon. Dies war das Geheimnis, um dessen Lüftung ich von deinem Hause aus aufgebrochen bin.“ Nun berichtete sie von allem, was sie im trockenen Land Anapat erlebt hatte.
„Nach alledem“, ergriff Batya, nachdem Bahadur geendet hatte, wieder das Wort, „bist du vielleicht bereit anzunehmen, was die Götter dir an Gnade gewähren. Die Große Harpyie war hier und trug mir folgende Botschaft für dich auf:
‚Dsibay wurde durch das Opfer Densyns, des Mörders, befreit. Er ist nun kein Rachegeist mehr. Dasilaryns Schicksal ist erfüllt. Er ist nun nicht weiter an den Fluch seiner Großmutter gebunden. Beiden sind noch vierzehn Jahre des Lebens gewährt, in denen es ihnen gegeben sei, nach eigenem Rat Glück und Unglück zu erstreben. Danach jedoch werden sie sich ihren Platz in meinem Gefolge wählen müssen, denn ihre Seelen sind mein. Bahadur wird keine Kinder mehr haben. Die Linien ihrer Großmutter und ihres Vaters werden mit ihr enden. Lang, weise und gerecht darf sie regieren oder tun, was auch immer sie will. Doch wen auch immer sie sich als Erbin erwählt, Elend wird ihr Reich heimsuchen.‘
Dies ist die Botschaft der Casyrga, die das Schicksal kennt. Danach sprachen wir nicht mehr über dich oder meinen Sohn, sondern nahmen als Mutter und Tochter Abschied voneinander. Denn sie schenkte mir für den Rest meiner Zeit die Freiheit.“
Da lächelte Bahadur und dankte dem Schicksal.
Zunächst ließ die Königin alle Frauen ihrer Sippe versammeln, die wenigstens eine Tochter und einen Mann besaßen. Sodann ließ sie ihren Gemahl nach den Himmlischen Hunden rufen und bat sie um eine letzte Gunst: Sie sollten unter den Prinzessinnen die nächste Königin wählen. Schließlich legte sie die Krone nieder und die Dasilim wählten weise und gerecht.
Vierzehn Jahre noch lebte Bahadur mit Dsibay und Dasilaryn gemeinsam in Batyas Haus. Von ihrer Schwiegermutter erlernte sie die Hexenkunde bis zu deren Tod. Daraufhin lehrte Bahadur vier Prinzessinen alles, was sie wusste und deren Schülerinnen setzen das Werk noch immer fort. Man sagt aber, dass die einstige Königin, als sie alt geworden war, nach Anapat zurückgekehrt sei, wo ihre Seele mit den Staubteufeln tanzt bis zum heutigen Tag.
Nachdem Dsibay zum Mann herangewachsen und seine Zeit unter den Lebenden verstrichen war, nahmen er und sein Vater Seite an Seite ihren Platz in Casyrgas Gefolge ein. Fortan hüten die beiden gemeinsam mit Blitz und Donner die Wolkenherde. Doch wann immer sie hören, wie ein Mensch unter freiem Himmel einen unbedachten Fluch ausspricht, eilen sie schleunigst herbei, die Worte wieder einzufangen, ehe sie das Ohr der Rachegöttin erreichen.