Der arbonische Staat - Vorwort und Einleitung

Aus Trigardon
Wechseln zu: Navigation, Suche

Die Druckversion eines Readers zu den staatlichen Strukturen von Emendons Reich ist hier: Datei:Der Arbonische Staat (Betaversion).pdf

Was heißt hier eigentlich "Mittelalter"?

Niemand setzt mittelalterliche Staatswesen und Gesellschaften so sehr ihrem verformenden Halbwissen aus, wie die Fantasy-Community – wenn man mal vom Schulunterricht absieht. Im Unterschied zu den Sekundarstufen 1 und 2 ist das Fantasygenre natürlich durch seine Fiktionalität dazu berechtigt. Insbesondere das Liverollenspiel lebt ja von Klischees.

Oder ist das nur eine Ausrede dafür, lustvoll, von kritischer Reflexion unbehelligt nostalgische Vorurteile zu pflegen? Und wenn ja, warum verwenden wir dann gerade das Mittelalter so gerne als Projektionsfläche unserer Fantasien? Was hat es uns getan? Und was kann es uns nicht geben, das wir doch so gerne von ihm hätten? Ist das Fantastische nur ein Hilfsmittel, um vom "Mittelalterlichen" nicht abgedeckte Bedürfnisse zu befriedigen? Jede Larp-Community im deutschsprachigen Mainstream tut gut daran, sich das regelmäßig zu fragen. So auch wir.

Sicher, Fantasy wird seit je her als Ausrede dafür benutzt, anachronistische Heldengeschichten zu reproduzieren, die in keiner anderen Erzählform mehr akzeptiert würden: Ritter die widerspruchsfrei für das Gute einstehen, weise Zauberer, die scheinbar nicht mehr essen müssen, gerechte Könige ohne jede politische Agenda, nicht zu vergessen die bösen, bösen Bösewichte, die über unbewohnte Schuttberge herrschen.

Aber Fantasy kann mehr! Die Fantasyliteratur durchläuft Phasen, in denen es seine Konventionen konstruiert und wieder dekonstruiert. Der Erfolg von "A Game of Thrones" und "A Song of Ice and Fire" ist ein klarer Hinweis darauf, dass wir gerade einen Trend erleben, in dem gerechte Könige, ritterliche Helden und weise Zauberer nicht mehr einfach damit gerechtfertigt werden können, dass sie halt so sind weil es im Fantasy halt so ist.

Das Genre hat Probleme damit, aus der Schmuddelecke des Literaturbetriebs herauszukommen, weil es als rückwärtsgewandt gilt. Das liegt daran, dass seine Werke so stark von den Vergangenheitsvorstellungen ihres Entstehungszusammenhanges beeinflusst werden. In der vermeintlich progressiveren Sciene Fiction üben diesen Einfluss eher die Zukunftsvorstellungen aus, was eine schnellere Aktualisierung der imaginierten Welten verlangt.

Doch auch die Geschichtswissenschaft konstruiert und dekonstruiert regelmäßig ihre Mythen und manchmal schaffen diese aktualisierten Vergangenheitsbilder auch den Sprung in die Populärkultur. Zum Beispiel könnte es passieren, dass das mittelalterliche Lehnswesen demnächst als historischer Mythos gilt. In der neueren Forschung steht mehr oder weniger das ganze Modell auf dem Prüfstand.

Ist das für Fantasy-Liverollenspiele relevant? Vielleicht nicht. Immerhin hat sich hier die Debatte darüber etwas abgekühlt, wie "der Feudalismus" möglichst "richtig" dargestellt werden sollte. Die Idee, vermeintliches oder tatsächliches Geschichtswissen als Argument für "gutes" Rollenspiel zu verwenden, hat sich in letzter Zeit abgenutzt.

Trotzdem hat das nicht dazu geführt, dass plötzlich neue, farbige, ungewöhnliche, nicht-europäische oder eben dezidiert nicht-mittelalterliche Hintergrundländer aus dem Boden geschossen sind. Es hat nicht dazu geführt, dass im Larp nennenswert mehr an spekualtiven, fantastischen Gesellschaftsordnungen herumprobiert worden wäre, die den Mut haben, sich etwas weiter von ihren historischen Inspirationsquellen zu entfernen. "Feudalismus", "(früh-/hoch-/spät-) mittelalterlich", "Lehenssytem", "Ständeordnung" und ähnlich schillernde Begriffe werden nach wie vor zur Beschreibung der Spielwelten und -Länder benutzt, ob sie nun das Dargestellte zutreffend beschreiben oder nicht. "Historisierend" und "Fantasy inspiriert von [Epoche]" werden nach wie vor als allgemein akzeptierte Ausrede dafür benutzt, die verwendeten Geschichtsbilder nicht hinterfragen, geschweige denn verstehen zu müssen.

Hier ist also ein Modell für die staatliche Dimension eines Fantasy-Larp-Hintergrundlandes, das alle oben angesprochenen Fragwürdigkeiten wiederholt:

  • Es verwendet "früh- bis hochmittelalterlich" als Attribut zur Selbstbeschreibung, was natürlich ein geschichtsdidaktischer Alptraum ist. Hätte es ein Trigardon vergleichbares Land im Zeitraum zwischen ca. 500 bis ca. 1200 in Europa gegeben, müsste es völlig anders aussehen, als wir es beschreiben und wäre mit Trigardon nicht mehr vergleichbar.
  • Es hat einen "Feudalismus-Überbau" ohne das wir uns dafür entschieden hätten, welchen der vielen Feudalismusbegriffe zwischen Ganshof, Bloch und Marx wir damit meinen.
  • Es ist völlig nostalgisch in dem Sinne, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Phänomene, die im realen Mittelalter am Anfang der Entwicklung zum globalisierten Kapitalismus standen, in Trigardon völlig unsichtbar sind und vielleicht nie eine Dynamik entfalten.

Aber wenigstens weißt du nach der Lektüre dieses Textes, was wir im trigardonischen Kontext unter unserer privaten, fiktionalen Version von "Feudalismus" verstehen, anstatt nach der Definition eines Begriffs suchen zu müssen, der je nach Kontext alles oder nichts bedeuten kann und von den historischen Handbüchern zunehmend gemieden wird. Und immerhin sind wir wenigstens so sehr up to date, dass wir "Vasallität" und "Lehnswesen" nicht für austauschbare Begriffe eines universalen Gesamtmodells halten. Wenn dir das nicht als Grund ausreicht, um dir ein Modell der arbonischen Staatlichkeit anzutun, können wir das verstehen.

Was hast du davon?

  • Wenn du eine Figur aus der politischen Klasse spielst, kannst du diesen Text als Nachschlagwerk benutzen, um eine unvorhergesehene Spielsituation zu erfassen. Ist es deine Aufgabe, zu Gericht zu sitzen? Ist deine Unterschlagung gerade ein Kavaliersdelikt oder eher ein Kapitalverbrechen? Ist dieses oder jenes Problem ein vorübergehendes Ärgernis oder eine Staatskrise? Solche Dinge.
  • Wenn du eine oder einen der Großen des Reiches spielst, kannst du mithilfe dieses Modells deine politischen Spielräume ausloten.
  • Wenn du eine Story mit politischer, juristischer oder wirtschaftlicher Dimension für eine Veranstaltung konstruierst, kannst du ihn mit Hilfe dieses Modells in einen Kontext einbetten.
  • Wenn du für dich oder deine Gruppe einen regionalen oder historischen Hintergrund konstruierst, z. B. "Lehen X in Baronie Y" solltest du dieses Modell als Bauplan verwenden, der die Regeln und Funktionsweisen in deiner Hintergrunderweiterung bestimmt. Es ist sozusagen der Quellcode dafür.
  • Wenn du einfach Lust hast, mehr über das arbonische Teilreich zu erfahren, hindert dich niemand daran, dich auch über seine staatlichen Strukturen zu informieren.

Wenn du dagegen ohnehin schon das Gefühl hast, dass dein Kopf vor Hintergrundmaterial überquillt, gibt es für dein Spiel sicher nützlichere Texte. Und wenn du etwas über reale Geschichte erfahren willst, sind die drei ersten Links in diesem Abschnitt vielleicht hilfreich, ansonsten endet hier der für dich interessante Teil.


Was ist der arbonische Staat?

Der Arbonische Staat ist Emendons Reich, wie es seit Anfang 36 n. C. (2011), seit der Teilung Trigardons in einen "flutländischen" und einen "arbonischen" Reichsteil, besteht.

Dieser Staat wird hier "arbonisch" genannt, weil die ethnische Gruppe der Arbonier das Staatsoberhaupt stellt, die Bevölkerungsmehrheit ausmacht und kulturell dominiert. Nicht etwa, weil seine Einwohner arbonischer "Nationalität" im modernen Sinne wären. Sicher fühlen sich seine Einwohner diesem Staat zugehörig, aber es gibt gewisse Unterschiede zu dem, was wir heute mit einer Staatsbürgerschaft verbinden.

Warum wird Emendons Reich hier als "Staat" bezeichnet, obwohl es laut Core-Facts nur mehr eine "Stammesgesellschaft mit Feudalismus-Überbau" sein soll? Ganz einfach – weil schon das im weitesten Sinne ein staatliches Gebilde sein kann. Emendons Reich ist nämlich:

  • Ein (mehr oder weniger gut) organisiertes Gemeinwesen
  • in (halbwegs) klar definierten territorialen Grenzen
  • mit einigen grundlegenden Rechtsbestimmungen, die überall in diesen Grenzen gleich (aber nicht überall gleich wirksam) sind.

Um im Spiel zu betonen, dass der arbonische Staat sich von modernen Staaten der realen Welt erheblich unterscheidet (er nämlich im Unterschied zu ihnen "vormodern", "phantastisch", "grob-mittelalterlich" bzw. "archaisch" ist), vermeiden wir den Begriff "Staat" im IT! Stattdessen sagen unsere Figuren zumeist "das Reich", zuweilen auch "das Gemeinwesen" oder benutzen irgendwelche Metaphern. Gemeint ist aber ganz klar das, was wir heute im realen Leben den Staat nennen würden.

Der offizielle Name des arbonischen Staates lautet "Hochfürstentum Trigardon". Man ignoriert dabei die Tatsache der Reichsteilung (und dass der flutländische Reichsteil genauso heißt). Wenn man deutlich machen will, dass es ausschließlich um den arbonischen Reichsteil geht, spricht man meist von "Emendons Reich" oder "das Reich des Hochfürsten von Trigardon" (im Unterschied zum "Reich der Hochfürstin von Trigardon"). Wenn man dagegen explizit von allem Reden will, was den politischen Bruchlinien übergeordnet irgendwie mit dem trigardonischen Reichsgedanken verbunden wird, benutzt man den Begriff "(die) Trigardonische(n) Lande".


Was macht den Arbonischen Staat aus?

Warum ist Bremen mit ca. 650 000 Einwohnern ein Bundesland, Köln mit ca. 1 Mio. Einwohnern aber nicht? Warum leistet sich ein demokratischer Staat eine Königsfamilie? Warum werden Inseln vor Mittelamerika "Westindien" genannt? Nichts davon erscheint logisch und über die Sinnhaftigkeit dieser Regelungen lässt sich zumindest streiten. Die Antwort auf alle drei Fragen wird eine Variante von "das hat historische Gründe" sein. Und es ließe sich eine endlose Reihe von weiteren logisch fragwürdigen aber faktisch unbezweifelbaren Gegenwartsphänomenen finden, die sich nur aus mehr oder weniger zufälligen Vorgängen der Vergangenheit erklären lassen. Sie sind Teil unserer Realität.

Auch in Emendons Reich gibt es diese Phänomene und sie machen einen großen Anteil seines Flairs aus. Der arbonische Staat hat seine Charakteristika in einem historischen Prozess erworben. Das Reich des Hochfürsten hat z. B. nicht einfach nur irgendwelche Grenzen. Es hat genau die Grenzen die es hat, weil bestimmte Ereignisse in der Vergangenheit zu diesem und nicht zu einem anderen Ergebnis geführt haben.

Die Funktionsweise des arbonischen Staates ist weder beliebig, noch geheimnisvoll. Aber statt zu versuchen, sie anhand von vermeintlichen Archetypen wie "Feudalismus" oder "Mittelalter" aufzuschlüsseln, erschließt sie sich leichter dadurch, eine Vielzahl von Organisationsmustern anzunehmen, die miteinander in Konkurrenz geraten und sich zugleich ergänzen. In ihrem Zusammenspiel ergeben sie eine Art von Herrschaftssystem. Es funktioniert gut genug um auf absehbare Zeit bestehen zu bleiben, erhebt aber nur rudimentär den Anspruch, systematisch zu sein.

Dieses "System" hat einerseits aristokratische und regionalistische, andererseits autoritär-zentralistische Tendenzen. Keine davon ist älter oder jünger. Sie entwickelten sich in Abhängigkeit voneinander und sind damit gleich (wenig) "traditionell". Auch ist jeder politische Akteur im arbonischen Staat immer beiden Tendenzen unterworfen. Z. B. ist das Staatsoberhaupt zugleich lokaler Machthaber mit regionalen Interessen, während auch die anderen regionalen Machthaber Funktionen des Zentralstaats ausüben.

Neben diesen historischen und politischen Rahmenbedingungen hat Emendons Reich auch eine materielle Dimension. Die wirtschaftliche Basis eines Landes wird gerne als bestimmender Faktor für das Wesen seines Staates gesehen. Im Larp ist sie zwar selten bis nie Spielgegenstand, trotzdem wirken sich die fiktiven wirtschaftlichen Verhältnisse indirekt und vorbewusst auf jede Darstellung aus. Daher lohnt es sich, dazu ein paar Annahmen zu definieren:

  • Die Wirtschaft in Emendons Reich ist agrarisch geprägt. Handel, Handwerk und Dienstleistungen werden zwar als wichtige Sektoren wahrgenommen, sind aber insgesamt von untergeordneter Bedeutung.
  • Fast alle Marktteilnehmer betreiben Subsistenzwirtschaft. Marktteilnahme und staatliche Abschöpfung finden vorwiegend auf Basis agrarischer Überschüsse statt.
  • Zumeist ist Arbeitskraft kein bedeutender Kostenfaktor. Es gibt eine große Reserve von Arbeitskräften mit stark beschränktem Marktzugang.
  • Der Zugang zu agrarischen Nutzflächen ist die wichtigste Form von Kapital. Geld und Edelmetalle sind vor allem zum ausgeben da, nicht zum horten. Geld regiert nicht die Welt!
  • Der Zugang zu agrarischen Nutzflächen ist staatlich und sozial fixiert. Rechtliche Bestimmungen und soziale Normen verhindern den Handel damit.
  • Die Wirtschaft des Arbonischen Staates wächst seit locker 40 Jahren gemütlich vor sich hin. Die Reichen wurden reicher, die Armen zumindest nicht ärmer. Es gibt kein Massenelend, viel Optimismus und wenig Reformwillen.
  • Nur die Reichsten können Großinvestitionen aus eigener Kraft tätigen. Dinge wie Burgenbau, Tempelstiftungen oder Siedlungsgründungen werden von möglichst vielen Investoren gemeinsam gestemmt. So etwas zuweilen auch im Alleingang zu tun, bedarf der Wirtschaftskraft eines Barons.

Neben diesen Grundlagen werden an geeigneter Stelle Sonderfälle zu erwähnen sein, weil sie die Funktionsweise des Staates überproportional stark beeinflusst haben.


Hier gehts weiter zu Teil 2: Die regionalistischen Strukturen des arbonischen Staates.